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Das Werk - 14

Das Werk - 14

Titel: Das Werk - 14
Autoren: Émile Zola
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nicht schlafen legen«, fing er ganz laut wieder an.
    Sie weinte heftiger und stammelte:
    »Mein Herr, ich bitte Sie, bringen Sie mich nach Passy3… Ich muß nach Passy.«
    Er zuckte die Achseln: hielt sie ihn etwa für dumm? Mechanisch hatte er sich zum Quai des Célestins umgedreht, wo sich ein Droschkenstand befand. Kein Laternenschein leuchtete von dort herüber.
    »Nach Passy, meine Liebe, warum nicht nach Versailles? – Wo zum Teufel soll man denn jetzt zu dieser Stunde und bei solch einem Wetter einen Wagen auftreiben?«
    Aber sie schrie auf, ein neuer Blitz hatte sie geblendet; und dieses Mal war die tragische Stadt blutüberspritzt für den Bruchteil einer Sekunde wie in einem ungeheuren Häuserdurchbruch wieder vor ihr aufgeleuchtet: die beiden Enden des Flusses, der sich, so weit das Auge reichte, inmitten der roten Gluten einer Feuersbrunst hinzog. Die winzigsten Einzelheiten kamen zum Vorschein, man konnte die kleinen geschlossenen Fensterläden am Quai des Ormes, die beiden Spalten der Rue de la Masure und der Rue du PaonBlanc unterscheiden, die die Linie der Fassaden durchschnitten; in der Nähe der Pont Marie hätte man die Blätter der großen Platanen zählen können, die dort einen Strauß prachtvollen Grüns hinsetzten, während auf der anderen Seite unter der Pont LouisPhilippe am Mail die in vier Reihen nebeneinanderliegenden Kähne aufgeflammt waren mit den Haufen gelber Äpfel, unter denen sie in allen Fugen krachten. Und man sah noch die Wasserstrudel, den hohen Schornstein des Waschschiffes, die reglose Kette des Baggerschiffes, den Sandhaufen oberhalb des Hafens am anderen Ufer, eine ungewöhnliche Verschachtelung von Dingen, eine ganze Welt, die den riesigen Wasserlauf, den ausgehobenen Graben von einem Horizont zum anderen ausfüllte. Der Himmel erlosch, die Wogen wälzten nur noch Finsternis im Donnergetöse. »O mein Gott! Jetzt ist alles aus … O mein Gott, was soll mit mir werden?«
    Der Regen setzte nun so stark, von einem solchen Wind getrieben, wieder ein, daß er den Quai mit der Wucht einer jäh geöffneten Schleuse leer fegte.
    »Los, lassen Sie mich rein«, sagte Claude, »das ist ja nicht auszuhalten.«
    Beide waren naß bis auf die Haut. Im verschwommenen Schein der Gaslaterne an der Ecke der Rue de la FemmesansTete sah er, daß die Frau troff, daß ihr Kleid am Leibe klebte in der Sintflut, die gegen die Tür brandete. Mitleid überkam ihn: hatte er doch an einem Gewitterabend schon mal einen Hund auf einem Bürgersteig aufgelesen! Aber es ärgerte ihn, daß er weich wurde. Niemals nahm er eine Dirne zu sich mit nach Hause, er behandelte alle, als seien sie für ihn nicht vorhanden, war ihnen gegenüber von einer leidenden Schüchternheit, die er hinter der Grobheit, mit der er prahlte, zu verbergen suchte; und diese hier hielt ihn wirklich für zu dumm, daß sie ihn so ankobern wollte mit ihrer Schmierengeschichte. Doch schließlich sagte er:
    »Nun langt’s, gehen wir nach oben … Sie können bei mir schlafen.«
    Sie war noch verstörter, sie sträubte sich:
    »Bei Ihnen, o mein Gott! Nein, nein, das geht doch nicht … Ich bitte Sie, mein Herr, bringen Sie mich nach Passy, ich flehe Sie an.«
    Da brauste er auf. Warum dieses Getue, wo er sie doch mitnahm? Schon zweimal hatte er an der Klingelschnur gezogen.
    Endlich gab die Tür nach, und er schob die Unbekannte ins Haus.
    »Nein, nein, mein Herr, ich sage doch, nein …« Aber ein Blitz blendete sie wiederum, und als der Donner krachte, ging sie plötzlich fassungslos hinein. Die schwere Tür hatte sich wieder geschlossen, sie stand in völliger Dunkelheit in einer geräumigen Toreinfahrt.
    »Madame Joseph, ich bin’s!« rief Claude der Concierge4 zu. Und mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Geben Sie mir die Hand, wir müssen über den Hof gehen.«
    Sie gab ihm die Hand, sie leistete keinen Widerstand mehr, war benommen, völlig willenlos.
    Abermals mußten sie unter dem sintflutartigen Regen hindurch, und sie rannten ungestüm nebeneinanderher. Es war ein riesiger hochherrschaftlicher Hof mit im Dunkel verschwimmenden steinernen Bogengängen. Dann kamen sie in einen überaus engen Hausflur ohne Tür, und er ließ ihre Hand los; sie hörte, wie er fluchend Streichhölzer anrieb. Alle waren feucht geworden, man mußte im Finstern tappend nach oben gehen. »Halten Sie sich am Geländer fest, und passen Sie auf, die Stufen sind hoch.«
    Die sehr schmale Treppe, eine frühere Dienstbotentreppe, führte über drei
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