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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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Abnormitäten (heute bekannt als Haus Bayliss ), als ihm ein Kind namens Edmund Dacey vorgestellt wurde. Den Einlieferungspapieren zufolge war Edmund bis zu seinem zweiten Geburtstag erfolgreich mit Hilfe eines automatischen Kindermädchens großgezogen worden; zu diesem Zeitpunkt hatte Lionel Dacey den Wechsel zu menschlicher Betreuung als angemessen erachtet. Ihm fiel auf, dass Edmund auf seine Anweisungen nicht reagierte, und kurz darauf diagnostizierte ein Arzt das Kind als »geistesschwach«. Da ein solches Kind in Lionel Daceys Augen nicht dazu taugte, die Leistungsfähigkeit des Kindermädchens zu demonstrieren, ließ er Edmund ins Brighton-Institut einweisen.
    Der Grund, weswegen die Ärzte des Instituts Lambshead zurate zogen, war Edmunds geringe Körpergröße: Obwohl er schon fünf Jahre alt war, entsprach er hinsichtlich Größe und Gewicht einem durchschnittlichen Dreijährigen. Die Kinder im Brighton-Institut waren normalerweise größer und gesünder als die Kinder vergleichbarer Heime; das lag daran, dass die Belegschaft des Instituts sich nicht an die damals immer noch übliche Praxis hielt, sich mit den Kindern so wenig wie möglich zu beschäftigen. Die Schwestern schenkten ihren Schützlingen Zuneigung und Körperkontakt und bewahrten sie dadurch vor dem Leiden, das heute als psychosozialer Minderwuchs bekannt ist und bei dem das Kind durch emotionalen Stress weniger Wachstumshormone produziert. In den Waisenhäusern jener Zeit war dieses Syndrom weit verbreitet.
    Vernünftigerweise vermuteten die Schwestern, dass Edmund Daceys verzögertes Wachstum auf die Betreuung durch das automatische Kindermädchen zurückging, das den menschlichen Kontakt ersetzt hatte, und erwarteten, dass er unter ihrer Fürsorge zunehmen würde. Doch nach zwei Jahren in dem Institut, in denen die Schwestern ihn mit Aufmerksamkeit überschüttet hatten, war Edmund kaum gewachsen, weswegen die Ärzte nach einer zugrundeliegenden körperlichenUrsache suchten.
    Lambshead stellte die Hypothese auf, dass das Kind tatsächlich unter psychosozialem Minderwuchs litt, jedoch einer besonderen, spiegelverkehrten Variante: Was Edmund brauche, sei nicht mehr Umgang mit Menschen, sondern mehr Umgang mit einer Maschine. Seine geringe Körpergröße sei nicht die Folge der Jahre, die er in der Obhut des automatischen Kindermädchens verbracht habe; vielmehr habe der Vater sie ausgelöst, als er ihm das automatische Kindermädchen genommen hatte, weil er glaubte, der Junge brauche jetzt menschliche Betreuung. Falls diese Theorie korrekt sei, meinte Lambshead, werde der Junge normal weiterwachsen, sobald er die Maschine zurückbekomme.
    Um ein automatisches Kindermädchen zu beschaffen, machte Lambshead Lionel Dacey ausfindig. In einer viele Jahre später verfassten Monographie berichtet er über den Besuch:
    [Lionel Dacey] sprach über sein Vorhaben, das Experiment mit einem weiteren Kind zu wiederholen, sobald er sicher sein könne, dass die Kindsmutter von guter Herkunft sei. Er war der Meinung, das Experiment mit Edmund sei nur wegen des »angeborenen Schwachsinns« des Jungen gescheitert, für den er die Mutter des Kindes verantwortlich machte. Ich fragte ihn, was über die Eltern des Kindes bekannt sei, und er antwortete mit ein wenig zu großem Nachdruck, er wisse nichts über sie. Später besuchte ich das Waisenhaus, aus dem Lionel Dacey Edmund adoptiert hatte, und entnahm den dortigen Unterlagen, dass die Mutter des Kindes eine Frau namens Eleanor Hardy gewesen war, die früher als Dienstmädchen für Lionel Dacey gearbeitet hatte. Für mich war es offensichtlich, dass Edmund in Wirklichkeit Lionel Daceys unehelicher Sohn ist.
    Dacey war nicht bereit, einem in seinen Augen gescheiterten Experiment ein automatisches Kindermädchen zu überlassen, doch er verkaufte eines an Lambshead, der es anschließend in Edmunds Zimmer im Brighton-Institut bringen ließ. Als das Kind die Maschine erblickte, umarmte es sie, und während der folgenden Tage spielte es glückselig, solange nur das Kindermädchen in der Nähe war. In den nächsten Monaten verzeichneten die Schwestern bei ihm einen stetigen Zuwachs an Größe und Gewicht, wodurch Lambsheads Diagnose bestätigt wurde.
    Die Mitarbeiter des Instituts gingen davon aus, dass Edmunds geistige Behinderung angeboren war, und gaben sich zufrieden, solange er körperlich und emotional gedieh. Lambshead hingegen stellte sich die Frage, ob die Bindung des Kindes an eine Maschine womöglich
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