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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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herumgepfuscht worden war, damit die Maschine zwischen zwei Aufziehvorgängen länger arbeitete. Er ließ eine ganzseitige Anzeige drucken, in welcher er – auch wenn er es vermied, die Hawthornes zu beschuldigen – darauf bestand, bei ordnungsgemäßem Gebrauch sei das automatische Kindermädchen vollkommen ungefährlich. Seine Bemühungen waren jedoch vergeblich; niemand wollte sein Kind mehr Daceys Maschine anvertrauen.
    Um die Sicherheit des automatischen Kindermädchens zu demonstrieren, kündigte Dacey mutig an, er werde sein nächstes Kind von der Maschine betreuen lassen. Hätte er sein Vorhaben erfolgreich in die Tat umgesetzt, hätte er das Vertrauen der Menschen in die Maschine vielleicht zurückgewinnen können. Doch dazu bekam er nie die Gelegenheit, da er potenziellen Heiratskandidatinnen von seinen Absichten zu erzählen pflegte. Der Erfinder präsentierte seinen jeweiligen Heiratsantrag als Einladung, an einem großartigen wissenschaftlichen Projekt teilzunehmen, doch zu seinem großen Erstaunen fand keine der von ihm umworbenen Frauen die Aussicht darauf sonderlich reizvoll.
    Nach jahrelangen Zurückweisungen gab Dacey seine Versuche auf, die ablehnende Käuferschaft von dem automatischen Kindermädchen zu überzeugen. Er kam zu dem Schluss, die Gesellschaft sei zu rückständig, um die Segnungen der maschinellen Kinderpflege zu würdigen, begrub auch seine Pläne für eine Unterrichtsmaschine und nahm seine Arbeit als Mathematiker wieder auf. Er veröffentlichte mehrere Artikel zur Zahlentheorie und lehrte in Cambridge, bis er im Jahr 1918 während der weltweiten Grippeepidemie starb.
    Möglicherweise wäre das automatische Kindermädchen gänzlich in Vergessenheit geraten, wäre nicht im Jahr 1925 in der Londoner Times ein Artikel mit dem Titel »Irrwege der Wissenschaft« erschienen. In ironischem Tonfall beschrieb der Text diverse fehlgeschlagene Erfindungen und Experimente, einschließlich des automatischen Kindermädchens, das in dem Artikel als »monströses Machwerk, dessen Erfinder Kinder gehasst haben muss« bezeichnet wurde. Reginalds Sohn Lionel Dacey, der inzwischen selbst Mathematiker geworden war und die Arbeit seines Vaters im Bereich der Zahlentheorie fortführte, war zutiefst empört. Er schrieb einen geharnischten Brief an die Zeitung und verlangte eine Richtigstellung. Als man dies ablehnte, strengte er eine Verleumdungsklage gegen den Verlag an, die jedoch zurückgewiesen wurde. Lionel Dacey ließ sich nicht beirren und startete eine Kampagne, die beweisen sollte, dass das automatische Kindermädchen auf vernünftigen und humanen Prinzipien der Kindererziehung beruhte, und brachte im Eigenverlag ein Buch über die Theorien seines Vaters zur Erziehung vernünftiger Kinder heraus.
    Lionel Dacey ließ die automatischen Kindermädchen, die sich im Schuppen des Familienanwesens befanden, generalüberholen und bot sie im Jahr 1927 erneut zum Verkauf an, fand jedoch nicht einen einzigen Abnehmer dafür. Er gab dem Dünkel der britischen Oberschicht die Schuld daran; da Haushaltsgeräte bei der Mittelschicht inzwischen als »elektrische Sklaven« beworben wurden, glaubte er, die Familien der Oberschicht hielten aus Imagegründen an menschlichen Kindermädchen fest, ganz egal, ob diese nun bessere Arbeit leisteten. Nach Meinung von Lionel Daceys Mitarbeitern ging der Fehlschlag auf seine völlige Weigerung zurück, das automatische Kindermädchen in irgendeiner Weise zu verbessern; er schlug die Empfehlung eines seiner geschäftlichen Berater in den Wind, der den Aufziehmechanismus der Maschine durch einen Elektromotor ersetzen wollte, und entließ einen anderen, der vorschlug, das Kindermädchen ohne die Nennung von Daceys Namen zu bewerben.
    Genau wie sein Vater beschloss Lionel Dacey schließlich, sein eigenes Kind mithilfe des automatischen Kindermädchens aufzuziehen, doch anstatt sich eine Braut zu suchen, gab er im Jahr 1932 bekannt, er werde einen Säugling adoptieren. Während der folgenden Jahre äußerte er sich nicht mehr in dieser Sache, was einen Klatschkolumnisten zu der Unterstellung verleitete, das Kind sei in der Obhut der Maschine gestorben. Inzwischen war das Interesse an dem automatischen Kindermädchen allerdings so gering, dass niemand der Sache auf den Grund ging.
    Ohne die Arbeit von Dr. Thackery Lambshead wäre die Wahrheit über den Säugling nie ans Licht gekommen. Im Jahre 1938 arbeitete Lambshead als beratender Arzt im Brighton-Institut für Geistige
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