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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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weitreichendere Folgen gehabt hatte als früher angenommen. Er mutmaßte, Edmund sei irrtümlich als schwachsinnig diagnostiziert worden, weil er menschlichen Lehrern keinerlei Beachtung schenkte, und werde auf einen mechanischen Lehrer vielleicht besser ansprechen. Leider hatte er keine Möglichkeit, seine Hypothese zu überprüfen; selbst wenn Reginald Dacey seine Unterrichtsmaschine fertiggestellt hätte, hätte sie Edmund nicht den Unterricht erteilen können, den dieser brauchte.
    Erst im Jahr 1946 war die Technik ausreichend weit entwickelt. Aufgrund seiner Vorlesungen über die Strahlenkrankheit pflegte Lambshead gute Beziehungen zu den Forschern im Argonne National Laboratory in Chicago und war anwesend, als die ersten ferngesteuerten Roboter vorgeführt wurden – mechanische Arme, die man für den Umgang mit radioaktivem Material entwickelt hatte. Sofort erkannte er, welches Potenzial sie für Edmunds Ausbildung beinhalteten, und es gelang ihm, ein Paar davon für das Brighton-Institut zu organisieren.
    Zu diesem Zeitpunkt war Edmund dreizehn Jahre alt. Gegenüber den Versuchen der Ärzte, ihn zu unterrichten, war er immer gleichgültig gewesen, doch die mechanischen Arme erregten sofort seine Aufmerksamkeit. Durch eine Gegensprechanlage, die den minderwertigen Klang des ursprünglichen Grammophons im Kopf des automatischen Kindermädchens simulieren sollte, konnten die Schwestern Edmund zu Reaktionen auf ihre Stimmen bewegen, die er bei direkter Ansprache niemals gezeigt hatte. Nach wenigen Wochen war es offensichtlich, dass Edmunds kognitiver Entwicklungsrückstand nicht von der Art war, die man früher vermutet hatte; die Belegschaft hatte nur nicht über die Hilfsmittel verfügt, die man für die Kommunikation mit ihm brauchte.
    Angesichts dieser Neuigkeiten gelang es Lambshead, Lionel Dacey zu einem Besuch im Institut zu überreden. Als er Edmunds lebhafte Neugier und Wissbegier erlebte, begriff Dacey, wie stark die intellektuelle Entwicklung des Jungen durch ihn beeinträchtigt worden war. Aus dem Bericht von Lambshead:
    Er hatte sichtlich Mühe, die Fassung zu wahren, als er sah, was er geschaffen hatte, indem er der Vision seines Vaters gefolgt war: ein Kind, das so stark an Maschinen gebunden war, dass es andere menschliche Wesen nicht zur Kenntnis nehmen konnte. Ich hörte ihn flüstern: »Vater, es tut mir leid.«
    »Ihr Vater würde sicherlich verstehen, dass Sie nur die besten Absichten hatten«, sagte ich.
    »Sie missverstehen mich, Dr. Lambshead. Wäre ich irgendein anderer Wissenschaftler, dann würden meine Bemühungen, seine These zu beweisen, von seinem Einfluss zeugen, ganz egal, zu welchen Ergebnissen ich gekommen wäre. Aber da ich Reginald Daceys Sohn bin, habe ich seine These gleich zweifach widerlegt: Denn mein ganzes Leben ist ein Beweis dafür, welche Wirkung die Aufmerksamkeit eines Vaters auf seinen Sohn haben kann.«
    Gleich nach diesem Besuch ließ Lionel Dacey in seinem Haus ferngesteuerte Roboter und eine Gegensprechanlage installieren und holte Edmund nach Hause. Er widmete sich ganz der maschinengestützten Interaktion mit seinem Sohn, bis Edmund im Jahr 1966 einer Lungenentzündung erlag. Dacey verstarb im Jahr darauf.
    Sie sehen hier das automatische Kindermädchen, das Dr. Lambshead kaufte, um Edmunds Betreuung im Brighton-Institut zu verbessern. Unmittelbar nach dem Tod seines Sohnes wurden alle in Lionel Daceys Besitz befindlichen Kindermädchen zerstört. Das Nationalmuseum für Psychologie bedankt sich bei Dr. Lambshead für die Schenkung dieses einzigartigen Ausstellungsstücks.

Quellenverzeichnis
    Die Übersetzung der ersten sechs Erzählungen folgt der Buchausgabe in Stories of Your Life and Others (New York: TOR, 2002). Die Übersetzung der siebten und achten Erzählung folgt dem Erstdruck.
    »Verstehen« (»Understand«), erstmals erschienen in Asimov’s , August 1991
    »Geteilt durch null« (»Division by Zero«), erstmals erschienen in Full Spectrum 3 [New York: Doubleday, 1991], hrsg. von Lou Aronica, Amy Stout & Betsy Mitchell
    »Zweiundsiebzig Buchstaben« (»Seventy-Two Letters«), erstmals erschienen in Vanishing Acts [New York: TOR, 2000], hrsg. von Ellen Datlow
    »Die Evolution des menschlichen Wissens« (»The Evolution of Human Science«), erstmals erschienen in Nature 405 [1. Juni 2000], unter dem Titel »Catching Crumbs from the Table«
    »Die Wahrheit vor Augen« (»Liking What You See: A Documentary«), erstmals erschienen in Stories of Your
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