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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
Autoren: Shani Boianjiu
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Stützpunktkommandanten. Ich betrete das Zimmer, salutiere mit dem Gewehr und starre ihn an.
    Eine Sekunde lang glaube ich, dass er nach seinem Gewehr greift. Dass der Kommandant des Stützpunkts mich erschießt. Manchmal denke ich Sachen und weiß, sie sind nicht wahr. Aber er greift nur nach seinen Zigaretten. Als er einen Zug macht, blähen sich seine Nasenlöcher auf. Er signalisiert mir, ihm gegenüber Platz zu nehmen, und als ich mich auf den Bürostuhl setze, sehe ich, dass seine Nasenhaare grau wie Spinnfäden sind. Im Gehäuse einer grünen Granate, seinem Aschenbecher, drückt er die Zigarette aus, und dann fischt er nach einer neuen.
    Anscheinend ist er höchstens daran interessiert, sich selbst umzubringen, und zwar langsam. Er hat kein Interesse daran, mich umzubringen. Es macht mich traurig, dass er sich mehr für sich interessiert als für mich. Vielleicht bin ich da unrealistisch, aber es macht mich trotzdem traurig, wenn Leute so sind. Die meisten Leute sind so. Dan war letztlich auch so. Nur daran interessiert, sich selbst umzubringen.
    Der Stützpunktkommandant sagt, ich solle mich zusammenreißen. Ob ich nicht wüsste, dass Leute sterben? Er hoffe, ich würde in Ruhe darüber nachdenken, wie ein besserer Soldat aus mir werden könne.
    »Und noch was. Deine Kommandantin sagt, dass du redest, ohne dass man dich dazu auffordert. Warum machst du das?«, fragt er.
    »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich, weil ich diese ganzen Gedanken habe«, sage ich.
    »Du solltest endlich aufwachen und einsehen, dass du alle anderen mit deinen Gedanken störst.«
    Zur Strafe muss ich die Nacht mit Gasmaske schlafen. Kreativ und demütigend zugleich. Ich bin irgendwie beeindruckt.
    Ich wünschte, ich wäre eine bessere Soldatin. Nachts denke ich an alles Mögliche, nur wie ich eine bessere Soldatin werden kann, darüber denke ich nicht nach, obwohl ich es wirklich versuche. Ich denke an Dan, Mama und Yael. An Leute, die nicht ich und keine Soldaten sind. Sogar an meinen Vater, an damals, als ich klein war und noch keine Soldatin.
    Die ganze Nacht über starre ich durch das Plastik an die Zeltdecke; die Maske rahmt den dicken grünen Stoff, dieses ganze Grün, wie ein impressionistisches Gemälde. Die Schnallen hinten an der Maske bohren sich in meine Kopfhaut.
    Wenn ich weine, dann nicht, damit eines von den Mädchen im Zelt mich hört und aufwacht. Man lässt uns jede Nacht nur fünf Stunden schlafen. Und wir sind keine Freundinnen.
    Ich kann nicht schlafen, also stelle ich mir zweierlei vor, was passieren könnte.
    Ich könnte nach einer Nacht mit Gasmaske aufwachen und herausfinden, dass der Iran Israel bombardiert hat und ich dank der Maske die einzige Überlebende im ganzen Land bin. Die anderen Mädchen im Zelt wären tot und blau angelaufen, und ich würde zum Tor raus in die Wüste Negev laufen, wo ich wegen Flüssigkeitsmangel sterben könnte, oder wegen Chemikalien, die meine Haut verätzen, aber das alles ist nicht, woran ich sterben werde. Ich werde sterben, weil ich keinen zum Reden habe.
    Die zweite Möglichkeit ist, dass der Iran Israel nicht bombardiert, zumindest nicht an dem Tag, und dass ich bis zu dem Ort komme, den Yael als Ende der Welt bezeichnet. Ich beende die Grundausbildung. Ich absolviere den Wehrdienst. Ich gehe nach Panama und Guatemala und Argentinien. Da sind auch Israelis, klar, von denen wimmelt es überall nur so. Aber irgendwann reisen alle ab und ich bin der letzte israelische Tourist in Ushuaia, Argentinien, der letzten Stadt vor der Antarktis, am Ende der Welt. In den Buchläden gibt es nur spanische Bücher. Die Seen sind zum Baden zu kalt. Die einzigen Gäste in Bars sind alte Franzosen, und ich bin allein.
    Meine früheste Erinnerung. Ich öffne die Augen und sehe den Raum durch Plastik. Mein Vater hat seine Maske auf, und meine Schwester, die zu klein für eine Gasmaske ist, liegt in einem vor Gas schützenden Inkubator, der auf dem Boden steht. Dan nimmt seine Maske immer wieder ab und Papa schlägt ihn. Papa nimmt seine eigene Maske ab, um aus seiner Flasche Arrak zu trinken. Wir schreiben das Jahr 1991 und aus dem Irak schießt man Raketen auf uns ab. Im Radio heißt es, wir sollen nicht in die Luftschutzkeller gehen. Sie sagen, man solle ein Zimmer im Haus mit Klebeband abdichten, Gasmasken tragen, viel Wasser trinken und auf das Beste hoffen. Im Radio heißt es, auf Gebiet M werden Raketen abgeschossen, das ist unseres. Damals wohnen wir noch nicht in dem Dorf, sondern in
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