Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verwunschene Tal

Das verwunschene Tal

Titel: Das verwunschene Tal
Autoren: Hans Kneifel
Vom Netzwerk:
Mondlicht neue Zerstörungen. Die Stadtmauern waren rußgeschwärzt, das Steinwerk von den Einschlägen mannigfaltiger Geschosse gezeichnet. Die langen Bahnen des Öls bedeckten die Quader. Große Flecken getrockneten Blutes waren hier und dort sichtbar. Alles Brennbare war weggeräumt worden. Die Caer schürten ihre Feuer mit den Resten.
    Die Soldaten hatten die Herrschaft über die Stadt übernommen. Wer nicht gehorchte, wurde geschlagen oder nach Fordmore getrieben. Wer sich offen auflehnte oder gar einen Caer angriff, starb eines schnellen Todes. Auch am Tag wurde in den Gassen nur geflüstert. Die Nyrngorer fürchteten sich. Es gab längst keine vierzigtausend Bewohner mehr. Wie viele es wirklich noch waren, konnte nicht festgestellt werden.
    Die Kälte hatte die Pest besiegt. Die letzten Pesttoten, einige Dutzend, waren vor der Mauer im hartfrierenden Boden begraben worden.
    Am Brunnenplatz hielt eine Katze die Reste einer zerfetzten Ratte zwischen den Vorderpfoten. Das Tier fauchte auf und machte den Buckel krumm. Dann sprang es mit einem weiten Satz von dem Balken und huschte lautlos am Brunnentrog vorbei. In der Dunkelheit ertönte ein halb ängstliches, halb zorniges Fauchen, dann war das Tier verschwunden. Die Katze, die gegen etwas Warmes, Weiches geprallt war, machte einen Bogen und bewegte sich in Richtung des Stadtzentrums.
    Eine schwarzverhüllte Gestalt richtete sich auf. Im Mondlicht funkelte die Schneide eines Dolches, der jetzt wieder unter dem Gewand versteckt wurde. Die Gestalt, eine gebeugte alte Frau, erstarrte, als sie das Klirren und das grölende Lachen hörte. Es kam aus der Gasse der Weinhändler.
    Entlang den Hauswänden tastete sich die Frau auf die Quelle der Geräusche zu. Sie setzte vorsichtig Schritt vor Schritt und bewegte sich völlig lautlos. Einen unsichtbaren Beobachter hätte etwas an den Bewegungen der Alten stutzig werden lassen. Zweihundert Schritt huschte die alte Frau entlang den Häusern, dann zog sie sich wieder in den Schatten zurück. Schräg gegenüber leuchtete durch die Sprossen eines Fensters Licht. Aus dem Schornstein des Hauses quoll weißer Rauch. Es roch nach Wein und Erbrochenem. Es roch aber auch nach Käse, nach Bratenfett und frischem Brot. Die Caer hatten diese Schenke in Besitz genommen.
    Die Frau brauchte nicht lange zu warten. Dann knarrte die Tür auf. Ein hochgewachsener Caer-Offizier stolperte über seine kurze Lanze, als er in die Gasse hinaustrat. Er schwankte hin und her und schien erheblich betrunken zu sein. Seinen Mantel hatte er lose über der Schulter, den Helm schlenkerte er am Sturmriemen hin und her. Torkelnd umrundete er ein leeres Weinfass. Er schien die Kälte nicht zu spüren, summte eine Melodie und rammte mit der Schulter die Mauer. Unbemerkt schlich die Frau hinter ihm her.
    Sie war drei Schritte hinter seinem Rücken, als er unter dem Steg stehenblieb, der von Haus zu Haus lief. Dann sauste etwas durch die Luft, der Mann stieß ein Ächzen aus und sank zu Boden. Ein Knüppel hatte ihn im Genick getroffen. Noch ehe er krachend auf das spiegelglatt gefrorene Pflaster schlagen konnte, schob die Alte ihren gekrümmten Körper vor ihn und fing den Sturz ab. Dann plünderte sie den Offizier mit raschen Bewegungen, die lange Erfahrung verrieten, restlos aus. Lanze, Helm, der Brustpanzer, Schwertgehänge und Dolche, der Mantel und schließlich die geraubten Stiefel. Als sie ihn zurückließ, war er nicht nackt, aber waffenlos. Und auch seine Geldbörse klimperte schwach am Gürtel der Alten. Sie schien über große Kräfte und ebensolche Behändigkeit zu verfügen, die Frau mit dem schmalen, runzligen Gesicht.
    Sie eilte zurück zur Schenke. Das Nachbarhaus war leer und dunkel. Mit all den Waffen kroch sie mehrere Treppen abwärts, tappte durch ein modriges Gewölbe und durchquerte mehrere Keller. Dann spähte sie schwer atmend durch die breiten Ritzen in einer Tür, die aus schenkelstarken Balken gezimmert und mit schweren eisernen Beschlägen verankert war. Dahinter flackerte schwach eine Kerzenflamme.
    Die Alte klopfte in einem bestimmten Rhythmus gegen die Tür. Sie tat es mit dem Knauf eines Dolches. Schritte näherten sich, eine unterdrückte Stimme fragte: »Wer da?«
    »Eine alte Frau, die Waffen eines bewusstlosen Offiziers und Geldstücke bringt.«
    Nur Eingeweihte kannten diesen Weg. Zwei Fallen, die einen ungeheuren Lärm verursacht hätten, hatte sie umgangen. Die Tür wurde geöffnet; sie bewegte sich geräuschlos. Die Frau
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher