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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Autoren: Martha Grimes
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Sheriff hat Ben Queen verhaftet?«
    »Er hat geschossen, aber bloß, damit Morris Slade nicht getötet wurde.» Meine Gedanken über Schuldige, die ungeschoren davonkommen, behielt ich für mich. Ich blätterte die Gesangbuchseiten so durch wie Aurora, wenn die ihren Packen Spielkarten durchmischte. Dann faltete ich das Zettelchen mit dem Gedicht auseinander.
    »Was liest du da?«
    »Gedichte und Kirchenlieder. Die haben nicht viel gemeinsam.» Ich schob das Gesangbuch wieder hinter seine Holzleiste zurück und faltete den Zettel mit dem Gedicht in noch kleinere Quadrate zusammen.
    »Was für ein Gedicht ist es denn?«
    »Von Robert Frost.«
    Father Freeman streckte die Hand aus, als hätte er ein Recht darauf, es zu sehen. Ich gab es ihm nicht. Weil Sie es nicht verdienen . Ich glaube, ich wusste, was Morris Slade gemeint hatte.
    »Und – liest du es mir vor?«
    So wie er seine Arme über die Rückenlehne der Kirchenbank legte und den Blick auf mir ruhen ließ, musste die Antwort wohl ja lauten.
    »Nein.«
    »Worüber bist du denn so wütend, Emma?« Dabei stützte er sein Kinn auf die Fingerspitzen, wie zum Gebet.
    Ich staunte, dass er sich das noch fragen musste. »Hab ich Ihnen doch gerade gesagt.«
    Er runzelte die Stirn. »Wegen Ben Queen?«
    »Der wird beschuldigt und bestraft, immer wieder. Und keiner hilft, keiner hilft den beiden. Morris Slade hat ja auch nichts getan.«
    Sein Kinn hatte sich kurz gehoben und landete nun wieder auf den Fingerspitzen, wieder in der Gebetshaltung. »Und du denkst, du müsstest etwas dagegen tun können?«
    Ich starrte ihn fassungslos an. Selbstverständlich müsste ich etwas dagegen tun können. Er aber auch, und ein Haufen anderer Leute ebenso. Ich faltete den Zettel auseinander und las vor:
    Ich wünscht, ich läg nachts einst – mehr wünschte ich nicht,
    Und dächt an ein ba-a-um-reiches O-Obst- …
    Genau wie Ulub verhaspelte ich mich …
    O-Obststück in Sicht,
    Ich hob den Blick und bohrte ihn in seinen hinein, dann fuhr ich mit der Zeile fort:
    Wenn langsam (und niemand kommt mit einem Licht)
    Das Herz tiefer sinkt in den Rasen hinein,
    Denn etwas muss Gott doch anheimgestellt sein.
    Ich durchbohrte ihn noch einmal mit meinem Blick.
    »Glaubst du das, Emma? Dass Gott etwas anheimgestellt ist?«
    Ich stand von der Kirchenbank auf. »Etwas. Aber nicht viel.«
    Ich ging hinaus.

64. KAPITEL
    Wieso ich mich beim Conservative im Hinterzimmer zwischen alten Zeitungen und verstaubten Magazinen verkroch, weiß ich nicht, doch fühlte ich mich dort seltsam geborgen, während ich uralte Werbeanzeigen für Toffeelutscher in Baseballschlägerform und für Campbell’s Suppen betrachtete, für Jell-O-Desserts in fantasievollen Formen und für Morton’s Salz, auf dem das Bild eines Mädchens mit Regenschirm zu sehen war, das nicht merkt, wie ihr das Salz aus der Packung läuft. Und für kleine Tangee-Lippenstifte, die bloß darauf warteten, von Miss Isabel Barnett im Laden geklaut zu werden. Ich hatte so eine Ahnung, dass es das war, was Miss Isabel tröstliche Beruhigung verschaffte: Ladendiebstahl.
    Einige dieser Zeitungen datierten bis in die 1910er und 20er Jahre zurück. Und diese Dinge gab es alle noch und würde es auch in vierzig Jahren noch geben. Ich war voller Staunen: Diese Dinge würden uns überdauern, ein seltsames Gefühl. Hier war ein Herd aus den dreißiger Jahren, den nur meine Mutter noch toll finden würde. So einen hatten wir hinten in der kleinen Küche. Er wurde mit Holz befeuert und hatte schwarze Eisenplatten, die man mit einer Art Hebel hochhob, eher etwas, was Auroras Mutter (wenn die Zeit überhaupt so weit zurückreichte) benutzt hätte.
    Ich reihte sämtliche Titelseiten, auf denen die Fadeaway Girls abgebildet waren, nebeneinander auf: Good Housekeeping , Life, die Saturday Evening Post . Ich betrachtete sie eingehend, weil ich dachte, die Bilder könnten mir etwas darüber erzählen, wie ich die Geschichte schreiben sollte, mit der ich Schwierigkeiten hatte, als könnten sie vielleicht etwas von der unterschwelligen Geschichte enthüllen. Denn an der Geschichte war mehr dran als die Tatsache, dass die Schwestern Devereau Mary-Evelyn ertränkt hatten, mehr als die Tatsache vom Mord an Rose Queen, von Ferns Ermordung, von Morris Slade und Ralph Fey Diggs. Und von mir.
    Die Titelseite von Life erinnerte mich an Vera, bloß dass das Mädchen jung und hübsch war: dieses kniende Zimmermädchen, das durch ein Schlüsselloch spähte. Ich musste zugeben,
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