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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee
Autoren: Ursula K. Leguin
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Und wenn sie dann durch die Flammen geläutert sind, können sie schließlich fliegen, und sie steigen auf an den
    Hof des Königs. Komm mit, komm mit in seinen Turm, wo die dunkle Nacht den Mond aus sich hervorbringt.«
    Hinter ihm stieg Otter die gewundenen Treppen hinauf, die zuerst breit und dann immer enger wurden, vorbei an Röstkammern mit rotglühenden Öfen, deren Abzugsrohre hinauf in die Reinigungskammern führten, wo nackte Sklaven den Ruß von dem verkohlten Erz abschabten und es dann wieder in den Ofen warfen, um es nochmals zu rösten. Sie gelangten in den obersten Raum. Gelluk sagte zu dem einzigen Sklaven, der dort am Rand des Schachts hockte: »Zeig mir den König!«
    Der Sklave, klein und dünn, kahlköpfig, mit offenen Wunden an Händen und Armen, hob den Deckel von einer Steintasse, die am Rand des Kondensschachts stand. Gelluk schaute hinein, begierig wie ein Kind. »So winzig«, murmelte er. »So jung. Der kleine Prinz, der Kind-Lord, Lord Turres. Keim der Welt! Seelenjuwel!«
    Aus der Brusttasche seines Gewands holte er ein mit Silberfäden besticktes Beutelchen aus feinem Leder. Mit einem zierlichen Hornlöffelchen, das an dem Beutel befestigt war, nahm er die paar Tropfen Quecksilber aus der Tasse und tat sie hinein, dann verschnürte er den Beutel wieder.
    Der Sklave blieb stehen, reglos. Alle Leute, die in der Hitze und den Dämpfen des Röstturm arbeiteten, waren nackt oder nur mit einem Hüfttuch und Mokassins bekleidet. Otter sah den Sklaven noch einmal an und dachte, dass er nach Größe und Gewicht ein Kind sein könnte, doch dann sah er die kleinen Brüste. Es war eine Frau. Sie war kahlköpfig. Ihre Gelenke waren geschwollene Knoten an den knochendürren Gliedern. Sie sah einmal zu Otter auf, wobei sie nur die Augen bewegte. Sie spuckte ins Feuer, wischte sich mit der Hand über den wunden Mund und stand wieder reglos da.
    »So ist's recht, kleiner Sklave, gut gemacht«, sagte Gelluk mit seiner sanften Stimme zu ihr. »Wirf deine
    Schlacke ins Feuer und sie wird zu lebendigem Silber und zu Mondlicht gewandelt werden. Ist das nicht wunderbar«, fuhr er fort, wobei er Otter mit sich wieder über die Wendeltreppe hinunter zog, »wie aus dem Niedrigsten das Edelste hervorgeht? Das ist das große Prinzip alles Könnens! Aus der widerlichen Roten Mutter wird der Allkönig geboren. Aus dem Speichel eines siechen Sklaven entspringt der silberne Keim der Macht.«
    Den ganzen Weg über die gewundene, stinkende Treppe hinunter redete er, und Otter versuchte zu verstehen, denn Gelluk war ein Mann der Macht, der ihm erklärte, was Macht war.
    Doch als sie wieder ans Tageslicht kamen, blieb sein Kopf noch in Dunkel gehüllt, und nach ein paar Schritten taumelte er rückwärts und erbrach sich auf den Boden.
    Gelluk beobachtete ihn mit einem forschenden, teilnehmenden Blick, und als Otter sich zuckend und nach Luft ringend wieder aufrichtete, fragte ihn der Zauberer freundlich: »Hast du Angst vor dem König?«
    Otter nickte.
    »Wenn du seine Macht teilst, tut er dir nichts zuleide. Eine Macht zu fürchten, eine Macht zu bekämpfen, ist sehr gefährlich. Die Macht lieben und sie teilen, das ist der Königsweg. Schau. Sieh zu, was ich tue.« Gelluk hielt den Beutel hoch, in den er die paar Tropfen Quecksilber verschlossen hatte. Die Augen stets auf Otter gerichtet, öffnete er den Beutel, führte ihn an die Lippen und trank seinen Inhalt. Er öffnete den lächelnden Mund, sodass Otter die silbrigen Tropfen auf seiner Zunge rollen sah, bevor er sie hinunterschluckte.
    »Jetzt ist der König in meinem Leib, ein edler Gast in meinem Haus. Er treibt mir nicht den Schaum vor den Mund und verursacht auch keine Wunden an meinem Körper; nein, denn ich fürchte ihn nicht, sondern lade ihn ein, und so tritt er ein in meine Venen und Adern. Mir geschieht kein Leid. Mein Blut fließt silbern dahin. Ich sehe Dinge, die anderen Menschen verschlossen sind. Ich teile die Geheimnisse des Königs. Und wenn er mich verlässt, verbirgt er sich unter dem Unrat, selbst in Fäulnis begriffen, und an diesem widerwärtigen Ort wartet er doch auf mich, damit ich wiederkomme und ihn reinige, wie er mich gereinigt hat, und so werden wir gemeinsam von Mal zu Mal reiner.« Der Zauberer nahm Otters Arm und ging mit ihm weiter. Lächelnd und vertrauensvoll sagte er: »Ich bin einer, der Mondlicht scheißt. So jemanden findest du nicht noch einmal. Und mehr noch, weit mehr, der König tritt in meinen Samen ein. Er ist mein Samen.
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