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Das Vermächtnis des Templers

Das Vermächtnis des Templers

Titel: Das Vermächtnis des Templers
Autoren: Christoph Andreas Marx
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Spannung eine Zeit lang, bis der Pfeil sich löste und genau in der Mitte eines Stammes einschlug, der etwa sechzig Schritte entfernt war. Zufrieden ließ Johannes den Bogen sinken. Er wusste nun, dass ihn seine Kunstfertigkeit nicht verlassen hatte.
«Ich verstehe deinen Meister», sagte der Alte, als sie wieder vor dem Feuer Platz genommen hatten. «Dein Schuss war vollkommen.»
Dann ergriff er das Schwert, betrachtete es erneut von allen Seiten und ließ es im Licht aufblitzen.
«Seltsam», sagte er. «Dieses Schwert ist vorzüglich, aber es wird wohl nie seinen Zweck erfüllen.»
«Auch der Bogen hat nie seinen eigentlichen Zweck erfüllt», sagte Johannes. «Diese Welt ist wohl nicht so, wie wir es erwarten.»
Der Alte verstand und nickte stumm.
    Am Abend war Johannes allein im Scriptorium. Vor ihm auf dem Pult lag der vollendete Grundriss der Klosterkirche von Loccum. Im Licht der Kerzen erkannte man die Gestalt des Kreuzes, Symbol für den gekreuzigten Christus, aber auch für die Überwindung des Todes, die Auferstehung und das Reich Gottes. Das Kreuz war ein vollkommenes Symbol, weil es den Gang der Welt hin zum ewigen Jerusalem darstellte. Dieses Symbol der Vollkommenheit hatte der Baumeister gewählt.
    Doch die Kirche von Loccum war nicht vollkommen. Ein Blick auf den Grundriss machte deutlich, dass im südlichen Seitenschiff etwas nicht stimmte. Unmittelbar zur Westfassade hin fehlte eines der kleinen Kreuzjoche. Auf der Zeichnung wirkte das so, als sei dem Kreuz an der Basis eine Ecke herausgeschnitten worden. Das konnte kein Zufall sein. Der Baumeister hatte mit äußerster Präzision an dieser Kirche gearbeitet. Wenn er das Symbol des Kreuzes in dieser Weise veränderte, war das kein Irrtum, kein Fehler, sondern bewusst so gewollt. Niemals durfte das Kreuz zerstört werden. Dann hätte die Kirche ihre Vollkommenheit verloren. Der Baumeister tat es dennoch, und das war ein deutliches Zeichen.
    Nun erinnerte sich Johannes an den Rat, den er von Jacques erhalten hatte. Vergleichen sollte er. Und tatsächlich. Auch im Grundriss der großen Kathedrale von Laon hatte er damals eine Unregelmäßigkeit in der Symmetrie gefunden, ebenfalls im südlichen Seitenschiff, angrenzend an die Westfassade. Dort war es keine Aussparung wie hier in Loccum, sondern eine seltsame Erweiterung, ein zusätzliches Querschiff. Aber auffällig war, dass die Baumeister in beiden Fällen die Symmetrie an der gleichen Stelle aufgehoben hatten, und in beiden Fällen wurde damit das Symbol des Kreuzes in seiner Reinheit beschädigt.
    Es war nicht so sehr die äußere, messbare Unregelmäßigkeit, die Johannes vor zwei Tagen hatte erschrecken lassen. Vielmehr war ihm schlagartig klar geworden, dass dies eine steingewordene Nachricht war, eine Glaubensaussage.
    Der Baumeister hatte in das Symbol der Vollkommenheit ein Symbol der Unvollkommenheit eingebaut. Er tat dies wissentlich. Diese Asymmetrie, dieser Fehler war gewollt. Und damit stellte er alles in Frage, was mit diesem Symbol verbunden war. War Christus nicht der Überwinder des Todes gewesen? Wäre dann auch die Welt, die Schöpfung noch nicht vollkommen? Hatte Gott sein Werk noch nicht zu Ende geführt?
    Johannes wurde sich bewusst, welche Tragweite diese Fragen haben mussten. Standen sie doch in direktem Widerspruch zur Lehre der heiligen Kirche.
    Doch mehr noch hatten sie Bedeutung für jeden Einzelnen. Wenn die Schöpfung noch nicht vollkommen war, dann bedeutete dies, dass der Mensch keinen Einklang finden konnte, dass vielmehr seine Unruhe, seine Rastlosigkeit, dass all seine Fragen ihm immer bleiben würden.
    Was der Baumeister mit seiner Kirche zum Ausdruck gebracht hatte, war das Unerklärliche, das große Rätsel, das Wissen darum, dass uns das Geheimnis des Lebens verborgen bleiben wird, dass es keine Gewissheiten geben kann. Das Leben des Menschen muss rastlos bleiben, kurz und voller Unruhe.
    Johannes hielt inne. Auch sein Leben würde rastlos bleiben.
    Da war nur mehr die Hoffnung auf einen gnädigen Gott und darauf, dass nichts aus der Schöpfung herausfallen kann.
Johannes löschte die Kerzen und verließ den Raum.
Komplet
    Johannes schließt den Buchdeckel und blickt durch das Fenster hinaus in die Finsternis.
    Es ist spät geworden. Er beschließt, seinen Brief morgen zu beenden. Bald wird die Stundenglocke ein letztes Mal erklingen, um zur Komplet zu rufen. Sie bildet den Übergang von der Nachtwache in den Schlaf. Komplet bedeutet Vollendung. Sie verbindet
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