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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Joël Tan
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für einen Wein, etwas Käse, Fleisch oder Bier gegeben? Ziemlich viel!
    Nach den ersten zwei Wochen war er schon bereit gewesen, das achte Gebot dafür zu brechen, heute liebäugelte er erschreckenderweise schon mit dem sechsten. Doch weder zur einen noch zur anderen Tat bekam er die Gelegenheit. Hier gab es nämlich weder etwas zum Stehlen, noch jemanden zum Töten, den er hinterher um sein Essen hätte erleichtern können.
    Abermals fragte er sich, wie es nur so weit hatte kommen können? Vorbei waren die Zeiten, da er in dem behaglichen Kaufmannshaus seines Ziehsohnes Walther gewohnt hatte, vergangen jede Zeit der Anerkennung. Noch vor wenigen Wochen war er ein geachteter Mann in Hamburg gewesen – ein Hexenbezwinger, Held der Bürger und noch dazu ein angesehener Geistlicher. Damals sah es sogar so aus, als ob man ihm das Haus seines aus der Stadt geflohenen Ziehsohns Walther, als Dank für die Dienste an der Stadt, zusprechen würde. Doch diese Tage gehörten der Vergangenheit an. Heute war er weiter entfernt von einem eigenen Haus, als er es wohl jemals zuvor gewesen war. Everard schalt sich einen dummen Narren. Wie hatte er auch nur glauben können, dass das Leben ihn derart beschenkte? Er wusste nun, dass er sich dem Hochmut hingegeben hatte, und dafür wollte Gott ihn jetzt bestrafen! Am St. Veitsmarkt im Juni war sein Glück zu einem jähen Ende gekommen, und sein Schicksal war mehr als ungewiss.
    Wieder und wieder spielte er in Gedanken den Tag des Jahrmarktes durch, an dem er zusammen mit dem Ratsherrn Johannes vom Berge festgenommen worden war. Die durch ihn dingfest gemachte Hexe Runa von Sandstedt sei zu Unrecht ins Verlies gesperrt worden, hieß es plötzlich, und er sei ein Betrüger. Daraufhin hatten der Vater der Hexe, Albert von Holdenstede, ihr Gemahl, Walther von Sandstedt, und sogar der Ratsnotar Johann Schinkel Beweise für ihre Unschuld und seine Schuld vorgebracht. Schlussendlich nahm man ihn fest und sperrte ihn ins Woltboten-Haus, in dem er noch immer einsaß.
    Ja, es stimmte, dass er bei einem von drei Beweisen für Runas Schuld etwas nachgeholfen hatte, doch nur, um die schwachgläubigen Hamburger endlich aufzurütteln! Runa von Sandstedt war eine Hexe – davon war Everard nach wie vor überzeugt –, auch wenn das Wunder, welches Gott an der Magd Johanna auf der Trostbrücke getan hatte, im Nachhinein angezweifelt wurde. Everard erinnerte sich noch genau. Inbrünstig, fast flehend, war sein Gebet um ein Wunder als Beweis für Runas Schuld zum Herrn im Himmel gewesen, und Gott hatte die stumme Magd plötzlich sprechen lassen. Ein jeder der damals Anwesenden hatte es mitbekommen, und viele waren ehrfürchtig auf die Knie gesunken. Dass jene Magd aber tatsächlich ein Mann und gar nicht stumm war, hatte niemand, auch nicht Everard, wissen können. Dennoch hielt ihn der Rat bis heute hier gefangen, wo er in Einsamkeit und Elend darbte.
    Vielleicht war es ein Fehler gewesen, überhaupt nach Hamburg zu kommen, schoss es Everard wieder einmal durch den Kopf. Sein bescheidenes Leben als Pfarrer in einem friesischen Dorf war manches Mal schwer gewesen, doch hatte er seine Freiheit gehabt! Die bloße Gier hatte ihn nach Hamburg zu seinem Ziehsohn reisen lassen, nicht die Liebe, die Fürsorge, oder der Wunsch, wieder zueinander zu finden.
    Dabei stünde ihm tatsächlich etwas von Walthers Reichtum zu, wie Everard fand. Ohne ihn wäre er schließlich gar nicht mehr am Leben. Schon kurz nach seiner Geburt hätte das Dasein des Jungen ein unschönes Ende gefunden, doch das wusste weder sein Ziehsohn noch sonst irgendwer aus dessen Familie. Everard hatte vor fünfunddreißig Jahren versprechen müssen, den Mund zu halten, als damals das winzige Bündel zu ihm gebracht worden war. Und mit diesem Versprechen war eine ansehnliche Belohnung einhergegangen, die Everard einige Jahre lang ein nettes Leben beschert hatte. Heute war von all dem nichts mehr übrig – außer dieser einen großen Lüge, die er sehr wahrscheinlich mit ins Grab nehmen würde.
    Plötzlich wurde Everard aus seinen Gedanken gerissen. Hinter der schweren Tür, die ihn seit Wochen in seiner Freiheit beschnitt, erklangen klimpernde Geräusche. Schlüssel! Sofort war der Geistliche hellwach. Wie konnte das sein? Wasser und Brot hatte er doch schon bekommen. Es musste einen anderen Grund geben. Hoffnung keimte in ihm auf.
    Der Woltbote stieß die Tür ganz auf und sah Everard von oben bis unten an. Er schmatzte ekelerregend und mit
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