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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Joël Tan
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jetzt schien die Alte zufrieden zu sein. Ihre Schultern entspannten sich. Sie atmete lange aus, faltete ihre Hände, schloss ihre Augen und lächelte so breit, dass ihre eigentlich runzligen Lippen für kurze Zeit wieder glatt waren. »Habt Dank, Erzbischof!«, sagte sie erleichtert und strahlte ihn an, so, als wenn eine schwere Last von ihr genommen worden war. »Jetzt kann ich meinem Schöpfer gegenübertreten.«
    Die Fremde war bereits dabei, den Dom zu verlassen, als der Erzbischof ihr hinterher rief. »Warte!«
    »Ja?«
    »Du sagtest, du bist von weit her. Von wo genau?«
    »Wisst Ihr das nicht schon längst?«
    Er zögerte. Ja, er wusste es. »Warte …!«, rief er ihr erneut zu, doch die Frau lief einfach davon.
    Giselberts Verwunderung über ihr Verhalten und wohl auch die verräterische Auffälligkeit in ihrer Aussprache, ließ ihn den eben noch uninteressanten Beichtbrief öffnen. Seine Augen überflogen die ersten Zeilen, in denen es um die zahlreichen, aber zugegeben nichtigen, Sünden einer alten Frau ging. Üble Nachrede, Zorn, eine Lüge … Dann aber kam er zur letzten und scheinbar wichtigsten Sache. Der Schriftkundige, der das Papier verfasst hatte, schrieb nun größer als zuvor.
    … vor vielen Jahren kannte ich diesen Mann aus dem Norden. Ich war jung, und obwohl alles gegen unsere Liebe sprach, sein Alter, sein Stand, seine Gesinnung, ja sogar seine Ehe mit der Tochter eines meiner ärgsten Feinde, zeugten wir ein Kind. Jenes Kind der Liebe durfte ich nicht behalten. Es wurde an einen mir fremden Ort gebracht, und ich weiß nicht, ob der Junge noch lebt. Der Mann meines Herzens musste mir entsagen – unserem Kind zuliebe, welches in Gefahr vor seinen Söhnen war. Ich habe ihn nie wieder gesehen, nur von ihm gehört, wie man eben von derlei Männern hört. Das ist meine schlimmste Sünde. Ich habe gebeichtet – Gott, vergib mir! Mein Tod ist nah, aber endlich bin ich frei. Lever tod as Sklav!
    Was hier geschrieben stand, erschien ihm wirr. Es waren keine Namen genannt worden, und doch haftete dieser Beichte etwas so Geheimnisvolles an, dass GisEpilogelbert weiterhin darüber nachdachte. Die Zeilen waren ihm noch vor Augen, obwohl er das Blatt schon hatte sinken lassen. Ein Mann aus dem Norden , stand dort geschrieben. Norden konnte überall sein, je nachdem, wo man sich befand. Ebenso undurchsichtig waren die Andeutungen über dessen Eheweib.
    Je länger der Erzbischof darüber nachdachte, desto weniger schlau wurde er aus dem Beichtbrief. Wahrscheinlich bedeutete das alles gar nichts. Das Mütterchen war einst jung gewesen und hatte Unzucht mit einem verheirateten Mann getrieben. Da war sie sicher nicht die Einzige. Sie hatte bloß ihr Gewissen erleichtern wollen, genauso stand es ja auch da: Lever tod as Sklav! waren die erklärenden Worte, die auch Giselberts Vermutung über ihre Herkunft bestätigten.
    Alle Stedinger lebten nach dieser Gesinnung, und sie starben offenbar auch danach. Eher riskierten sie alles, als dass sie Sklaven waren – Sklaven des Fleisches oder der bloßen Gedanken. Doch warum war die Frau ausgerechnet zu ihm gekommen? Der Erzbischof wunderte sich zu Recht – schließlich verband ihn und die Stedinger eine jahrelange Feindschaft.

1
    Die dreckige Holzschüssel wurde achtlos durch einen Spalt zwischen Tür und Rahmen geschubst und rutschte dem Geistlichen direkt vor die Füße. Schon der bloße Blick auf den betagten Kanten Brot genügte um festzustellen, dass seine Mahlzeit auch heute wieder die Beschaffenheit eines Steins besaß. Sein sonst so quälender Hunger war bei diesem Anblick wie fortgeblasen.
    Es war zermürbend, belastend, beängstigend. Wie lange würde das noch so weitergehen? Zehn Wochen waren nun schon vergangen, das wusste Everard, da er kleine Linien für jeden Tag in die Gemäuer geritzt hatte. Zehn Wochen im Woltboten-Haus ohne jede Veränderung! Täglich gab es eine Schüssel Brot und dazu nur Wasser. Was es nicht gab, waren Antworten.
    Stumm und unbewegt zählte er bis zwölf, denn das war genau jene Zeit, die der Woltbote brauchte, um zum Brunnen und wieder zurück zu laufen. Die Zahl Zwölf erschien in seinen Gedanken, da öffnete sich die Tür. Ein kleiner Krug mit abgeplatztem Rand wurde auf dem Boden abgestellt. Dann wurde die Tür wieder geschlossen.
    Everard blickte nicht auf. Das stinkende Wasser interessierte ihn ebenso wenig wie das harte Brot – und dennoch würde er es später essen, nur um nicht zu verrecken. Was hätte er jetzt
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