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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Joël Tan
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schwerfiel, keinen Finger mehr krumm zu machen, seit sie auf der Burg wohnten. Das Gebrüll einiger Männer, die lautstark all ihre Kraft aufwendeten, um ein paar offensichtlich schwere Fässer zu stapeln, holte sie aus ihren Gedanken. Sie entschied, endlich Walther aufzusuchen. Sicher wartete er schon. So raffte sie ihre Röcke und bahnte sich einen Weg durch die geschäftige Masse. Dabei ließ sie ihren Blick schweifen. Wenn sie sich nicht täuschte, müsste er noch irgendwo hier auf dem Burghof sein. In der Regel schaffte er es nämlich nie besonders weit, ohne dass man ihn aufhielt. Und auch Runa musste ein ums andere Mal stehenbleiben. Immer wieder ertönte neben ihr ein höflicher Gruß, den sie ebenso höflich erwiderte, wie jenen der Magd Christin.
    »Genießt den Tag, Dame Runa!«, rief das grünäugige Mädchen, knickste vor ihr und ging darauf wieder ihres Weges.
    »Das werde ich gewiss!«, antwortete Runa lächelnd. Mittlerweile waren ihr die Gesichter der Burgbewohner vertraut, und auch die Kieler hatten sich an die Fremden gewöhnt. Niemand schien sich an ihrem schnellen gesellschaftlichen Aufstieg zu stören – oder sie zeigten es nicht. Vielleicht lag es daran, dass sie Günstlinge des Grafenpaares waren, vielleicht aber waren die Kieler auch einfach weniger missgünstig als die Hamburger. Runa spürte zwar stets die Blicke der Menschen um sich herum, doch meinte sie, in ihnen vor allem Neugier zu erkennen. Anders als noch vor ein paar Wochen in Hamburg, hegte hier keiner offenkundig Groll gegen sie und Walther, eher das Gegenteil war der Fall. Schließlich hatte er doch den Frohmut zurück auf die Burg gebracht. Schon oft in den letzten Wochen hatte Runa versucht sich zu erinnern, wann sie sich das letzte Mal so geborgen und erwünscht gefühlt hatte – es war lange her. Viel klarer hingegen waren die Erinnerungen an die Zeit, da sie von den Hamburgern geächtet und schlussendlich sogar in das Verlies geworfen worden war. Noch immer übermannten sie die damaligen Bilder von Zeit zu Zeit.
    Runa schritt über den Boden, der eigentlich der Burghof war, doch das ließ sich nur noch erahnen. Die vielen Feuerstellen hinterließen einen dichten Rauchschleier, der sich nur langsam lichtete und dann auch gleich wieder aufzog. Das ununterbrochene Geplauder der Menschen um sie herum machte es unmöglich, Walthers Stimme herauszuhören. Kinder jagten hintereinander her und schrien dabei mit ihren hohen Stimmen. Irgendwo bellte ein Hund. Runa blieb stehen und sah sich um. Es dauerte einen Moment, doch dann, neben einem mächtigen Gestell, das dem Aufhängen und Trocknen von Stockfisch diente, entdeckte sie endlich ihren Gemahl. Er stand inmitten einiger Männer. Sie unterhielten sich angeregt, und ihren Gesten nach zu urteilen, redeten sie über den Schwertkampf zu Pferd, was wahrlich nicht verwunderlich war. Welches andere Thema sollte es heute auch geben?
    Als Walther seine Frau erblickte, entschuldigte er sich bei den Männern und ließ sie stehen. Die Augen auf die Dame seines Herzens gerichtet, kam er lächelnd auf Runa zu.
    Sie sah es sofort: Er hatte diesen bestimmten Blick, der nur dann sein Gesicht zierte, wenn er gerade als Spielmann diente. In jenen Momenten war er ein anderer Mensch. »Seid gegrüßt, teuerste und edelste aller anwesenden Damen.«
    Runa ließ sich die Hand küssen und sagte grinsend: »Lass das nicht die Gräfin hören.«
    »Ich bitte Euch, ein Blinder könnte sehen, dass Ihr bezaubernd wie der heutige Tau auf den morgendlichen Wiesen seid und Euer Antlitz so strahlend wie das der Sonne«, schmeichelte er übertrieben, wie er es von Zeit zu Zeit gerne tat. Dann kam er näher, so nah, dass nur Runa zu hören vermochte, was er sagte. »Ihr seid heute besonders schön, geliebte Gemahlin. Die Ritter müssen mich beneiden.«
    Runas Grinsen verschwand – doch nur, um einem schmachtenden Ausdruck Platz zu machen. Sie versank in seinen Augen und merkte kaum, wie Walther ihre Hand nahm. Er legte sie sich auf seine Brust, wo sie sein Herz spüren konnte. Um sie herum wurde alles für einen Moment lang still. Sie hatte nur noch Augen und Ohren für ihn, wollte etwas erwidern, aber er brachte sie mit einem leisen »Scht!« zum Schweigen.
    »Sagt nichts, Teuerste. Ich bin es, der immerzu reden sollte, um Euren Liebreiz zu preisen.«
    Runa schmolz unter seinen übertriebenen Worten förmlich dahin. Sie konnte selbst kaum glauben, welch heftige Wirkung allein seine Stimme mittlerweile auf sie
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