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Das Vermächtnis der Montignacs

Das Vermächtnis der Montignacs

Titel: Das Vermächtnis der Montignacs
Autoren: John Boyne
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noch. Um sie nicht zu stören, schlüpfte er leise aus dem Bett und tappte in die Küche hinunter, um sich eine Kanne Tee zu machen. Die Post war noch nicht gebracht worden, dazu war es zu früh, aber die Sunday Times vom Vortag lag noch auf dem Tisch. Er griff danach, doch dann stellte er fest, dass Jane die Kreuzworträtsel schon gelöst hatte – die einfachen wie die verzwickten –, woraufhin er die Zeitung mit einem Seufzer zur Seite schob.
    Wie immer hatte er die Zeitungen während des Wochenendes gemieden. Seit seinen Anfängen als Referendar in der Kanzlei des Anwalts und Richters Seiner Majestät, Sir Max Rice, ebenso wie in seiner Zeit als junger Anwalt, der in den Gerichten Londons und den umliegenden Bezirken Fällen nachjagte und im Gerichtssaal nur in der zweiten Reihe sitzen durfte, von wo aus er seinem gelehrten Vorgesetzten Ratschläge ins Ohr flüsterte, und auch danach als Anwalt, der durch seine Arbeit berühmt geworden war, hatte Roderick nie Zeitungsberichte über seine Fälle gelesen. Später, als er zum Richter des Hohen Gerichtshofs berufen worden war und einigen der berüchtigten Prozesse vorsaß, war diese Einstellung für ihn Ehrensache geworden.
    Angesichts der außergewöhnlich großen Aufmerksamkeit, die sein gegenwärtiger Fall hervorgerufen hatte, wagte er es nicht, sich den Kreuzworträtseln der Titelseite zuzuwenden, denn die Schlagzeile konnte er sich vorstellen. Auch die Kolumnen überflog er nicht, seine Entscheidung durfte weder von der öffentlichen Meinung noch von den Ansichten eines Redakteurs beeinflusst werden, oder gar von den Leserbriefen, was noch schlimmer gewesen wäre. Deshalb warf er die Zeitung in den Abfalleimer und ging hinauf, um ein Bad zu nehmen.
    Ungefähr eine Stunde später, kurz vor halb sieben, saß er in seinem Arbeitszimmer und las noch einmal die Urteilsbegründung, die er am Wochenende verfasst hatte und die die Ursache seiner Schlaflosigkeit am frühen Morgen gewesen war. Punkt elf Uhr würde er sie vor dem versammelten Gericht und den Vertretern der Presse verlesen. Er studierte den Text. Aus Angst, ihm könnte irgendwo ein Fehler unterlaufen sein, überprüfte er einige der zitierten Gesetze doppelt und dreifach, schließlich war er im Besitz einer eindrucksvollen Rechtsbibliothek. Dann lehnte er sich mit einem Seufzer zurück und sann über die Umstände nach, die ihn dazu zwangen, Entscheidungen dieser Art zu treffen.
    Er kam zu dem Schluss, dass das Amt des Richters ein eigentümlicher Beruf war; denn zu ermessen, ob man jemandem die Freiheit gewähren oder verwehren sollte, beinhaltete eine merkwürdige Autorität, und einem Menschen zu gestatten, weiterzuleben, oder zu verkünden, dieses Leben solle beendet werden, bedeutete eine Macht, die demütig stimmte.
    Er hörte, dass es sich im Haus zu regen begann, und nahm an, dass Sophie, das Hausmädchen, und Nell, die Köchin, kurz davor waren, ihre Arbeit aufzunehmen. Jane stand nie vor neun Uhr morgens auf, und da sie es vorzog, im Bett zu frühstücken, kam ihm der Gedanke, ihr das Frühstück heute einmal selbst zu bringen. An diesem schwierigen Wochenende war sie ganz besonders aufmerksam gewesen und hatte, um ihn von seinen Sorgen abzulenken, für Samstag und Sonntag eine kleine Auszeit in einem Hotel im Lake District angeregt. Da habe er eine friedliche Umgebung, um sein Urteil niederzuschreiben, hatte sie angeführt, doch er hatte das Angebot ausgeschlagen. Wie hätte das für die Presseleute ausgesehen, wenn er in der Gegend von Wordsworth Urlaub machte, während das Leben eines Menschen auf dem Spiel stand?
    Â»Wen interessiert schon, was sie sagen?«, hatte Jane gefragt und festgestellt, wie viel grauer das Haar ihres Mannes in den letzten Monaten geworden war, seit Beginn dieser entsetzlichen Verhandlung. »Wen interessiert überhaupt, was sie über dich schreiben?«
    Â»Mich interessiert es«, erwiderte Roderick mit bekümmertem Lächeln und einem Schulterzucken. »Wenn sie mich kritisieren, kritisieren sie die Rechtssprechung als Ganzes, und dafür möchte ich nicht verantwortlich sein. Wir könnten am nächsten Wochenende verreisen, wenn diese grässliche Sache hinter uns liegt. Abgesehen davon würden sie uns jetzt bis dorthin verfolgen, und wir hätten ohnehin keine schöne Zeit.«
    Auf der Treppe wurden Schritte
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