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Das Vermächtnis

Das Vermächtnis

Titel: Das Vermächtnis
Autoren: Kathryn Lasky
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musste!

Um diese Jahreszeit blies ein stürmischer Wind, den wir „N’yrthnuukah“ nannten. Der Rückflug würde lange dauern. Ich musste seitlich gegen den Ostwind anfliegen und aufpassen, dass ich nicht nach Westen abgedrängt wurde. Als ich zum Schattenwald kam, flog ich zwischen den Baumkronen, wo es ein wenig windgeschützter war.
    Den ganzen Rückflug über waren meine Gedanken bei H’rath und Siv. Wir drei kannten einander schon seit unserer Kindheit. Als flugunfähige Küken waren wir zusammen über die Gletscherhänge geschlittert. Wir waren alle von adliger Herkunft. H’rath war der Sohn des Hohen Königs und somit ein Prinz. Siv war die Tochter eines Clanführers, und ich war ebenfalls ein Prinz, auch wenn mein Vater nicht Hoher König war.
    Von Anfang an stand fest, dass H’rath zum künftigen Herrscher bestimmt war und ich nicht. Ich hatte auch gar nicht den Wunsch, König oder Clanführer zu werden. Ich sah mich eher als Gelehrten oder Forscher. Als ich dann meine erste Vision hatte, begriff ich, dass mich meine Gabe in gewissem Sinne zum Außenseiter machte. Sie war sowohl ein Geschenk als auch eine Bürde.
    Dass ich Visionen hatte, sprach sich bald herum. Meine Eltern waren hocherfreut, dass ich so schnell Fliegen gelernt hatte. Wie alle stolzen Eltern gaben sie ein bisschen mit mir an und erzählten ihren Bekannten, dass ich „Sonnenflecken mit Bildern drin“ gesehen hätte. Daraufhin machten die anderen Eulenkinder einen Bogen um mich. Nur H’rath und Siv blieben mir treu. Als wir dann flügge waren, wurden wir drei unzertrennlich. Ich war schon immer in Siv verliebt gewesen, aber gegen H’rath hatte ich keine Chance. Er war ein stattlicher, attraktiver Fleckenkauz und, wie schon erwähnt, eine echte Anführernatur. Und obwohl er gern derbe Witze riss, war er ein feiner Kerl.
    Meine Visionen behielt ich nach Möglichkeit für mich. Auch mit H’rath und Siv sprach ich nur ganz selten darüber. Nur manchmal war ich gezwungen, den Schnabel aufzumachen. So kam es, dass ich H’rath einmal das Leben rettete.
    Wir drei waren immer noch Jungvögel und hatten die Nacht damit zugebracht, durch die Frühlingswinde über den Hängen des H’rathgar-Gebirges zu tollen. Wir lachten und übertrafen einander mit allen möglichen Flugkunststückchen, für die wir uns lustige Namen ausdachten. Da gab es die „Kukla-Spirale“ – „kukla“ heißt auf Krakisch so viel wie „verrückt“ – und die übermütige „Hägsrolle“. Hätten unsere Eltern gehört, dass wir dieses Wort benutzten, hätten wir tüchtig etwas auf die Ohrschlitze bekommen! Am meisten Spaß machte der „Kreisel“. Dabei spreizte man die Schwanzfedern in eine Richtung und die Handschwingen in die andere und schraubte sich in wilden Drehungen nach oben, bis einem beinahe die letzte Mahlzeit hochkam. Wir waren gerade wieder atemlos gelandet, als jemand rief: „He, Kinder!“
    Auf einem eisbedeckten Felsvorsprung saß ein Bartkauz. Vor ihm lag ein frisch gefangener Lemming.
    „Das ist ein Krieger!“, raunte Siv uns zu. Sie hatte das blutbefleckte Eisschwert des Fremden erspäht.
    „Bestimmt kommt er aus dem Kampfgebiet im Süden!“ H’rath wurde ganz aufgeregt. Er liebte alles Kriegerische. Er träumte davon, selbst einmal ein Eisschwert zu besitzen und dazu noch sämtliche anderen Eiswaffen, die es gab.
    „Wollt ihr nicht rüberkommen? Der Lemming hat so viel Fleisch auf den Knochen, dass es für uns alle reicht.“
    Wenn sich der Bartkauz in diesem Teil des Gebirges aufhielt, musste er einer der Unseren sein. Das Kriegsgebiet lag im Südosten von N’yrthgar. Das H’rathgar-Gebirge jedoch gehörte zum Reich von H’raths Vater, König H’rathmore. Darum fühlten wir uns sicher und folgten der Aufforderung des Fremden.
    H’rath konnte den Blick nicht von dem Eisschwert lassen. „Da klebt ja noch Blut dran!“, sagte er ehrfürchtig.
    „Klar doch. Es stammt von einem Kreischeulerich aus Hengens Heer.“
    „Sprichst du etwa von Hengen, Häg von Mylotte?“
    „Du hast’s erfasst, Kleiner.“
    Hengen war ein gefürchteter Krieger. Er kam aus einem Clan, dessen Oberhaupt sich mit dem Hägsdämon Mylotte verbündet hatte. Während H’rath weiter das Schwert bestaunte, betrachtete ich den erbeuteten Lemming. Der Nager war wohlgenährt. Sein Fell glänzte in der Winterabendsonne. Mein Muskelmagen knurrte vernehmlich.
    „Der Prinz soll zuerst fressen“, verkündete der Bartkauz. Plötzlich verschwamm mir alles vor den
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