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Das Verlorene Labyrinth

Das Verlorene Labyrinth

Titel: Das Verlorene Labyrinth
Autoren: Kate Mosse
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aus der Tasche. Sie beugt sich vor, zieht ihn vorsichtig heraus und pustet den Staub weg, bevor sie ihn dicht an die Flamme hält.
    Es ist ein kleiner Steinring, schlicht und unscheinbar, mit einer runden, glatten Oberfläche. Auch er kommt ihr seltsam bekannt vor. Alice nimmt ihn genauer in Augenschein. In die Unterseite ist etwas eingekratzt. Zuerst denkt sie, es ist eine Art Siegel. Doch dann erkennt sie es mit einem leichten Schock. Alice blickt zu der Höhlenwand hoch, dann wieder auf den Ring.
    Die Muster sind identisch.
    Alice ist nicht religiös. Sie glaubt nicht an Himmel oder Hölle, nicht an Gott oder Teufel und auch nicht an die Wesen, die angeblich hier in den Bergen herumspuken. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben wird sie von dem Gefühl überwältigt, in Gegenwart von etwas Übernatürlichem zu sein, von etwas Unerklärlichem, von etwas, das größer ist als ihre Erfahrung und ihr Begriffsvermögen. Sie spürt etwas Böses über ihre Haut kriechen, ihren Kopf, ihre Fußsohlen.
    Ihr Mut verlässt sie. Die Höhle ist plötzlich eiskalt. Angst schnürt ihr die Kehle zu, lässt ihr den Atem in der Lunge gefrieren. Alice steht hastig auf. Sie sollte nicht hier sein, an diesem uralten Ort. Jetzt will sie nur noch raus aus der Kammer, fort von diesem Anblick der Gewalt und dem Geruch des Todes und zurück ins sichere, helle Sonnenlicht.
    Doch es ist zu spät.
    Über oder hinter ihr, wo, kann sie nicht sagen, sind Schritte zu hören. Das Geräusch hallt in der kleinen Kammer wider, prallt von den Felswänden ab. Es kommt jemand.
    Alice wirbelt vor Schreck herum und lässt in ihrer Panik das Feuerzeug fallen. Es wird dunkel um sie herum. Sie will loslaufen, verliert jedoch in der Finsternis die Orientierung und weiß nicht mehr, wo der Ausgang ist. Sie strauchelt. Die Beine rutschen unter ihr weg.
    Sie fällt. Der Ring fliegt zurück in den Haufen Knochen, wo er hingehört.
     

2 Carcassonne
     
    Südwestfrankreich
     
    W enige Kilometer Luftlinie nach Osten entfernt, in einem vergessenen Dorf in den Sabarthès -Bergen, sitzt ein Mann in einem hellen Anzug allein an einem Tisch aus dunklem, glänzend poliertem Holz.
    Der Raum hat eine niedrige Decke und ist mit großen, quadratischen Fliesen von der Farbe roter Bergerde ausgelegt, die ihn trotz der Hitze draußen kühl halten. Die Läden vor dem einzigen Fenster sind geschlossen, daher ist es dunkel, bis auf den kreisrunden gelben Lichtschein einer kleinen Öllampe auf dem Tisch. Das schwere Wasserglas neben der Lampe ist fast bis zum Rand mit einer roten Flüssigkeit gefüllt.
    Auf dem Tisch verstreut liegen etliche Blätter dickes, cremefarbenes Papier, jedes davon Zeile um Zeile mit schwarzer Tinte in einer akkuraten Handschrift beschrieben. In dem Zimmer ist es still, bis auf das Kratzen und Schaben des Stiftes und das Klimpern der Eiswürfel im Glas, wenn er trinkt, hört man nichts. Feiner Duft nach Alkohol und Kirschen. Das Ticken der Uhr markiert das Vergehen der Zeit, wenn er innehält, nachdenkt und dann weiterschreibt.
     
    Was wir in diesem Leben zurücklassen, ist die Erinnerung daran, wer wir waren und was wir getan haben. Ein Abdruck, mehr nicht. Ich habe viel gelernt. Ich bin weise geworden. Aber habe ich etwas bewegt? Ich weiß es nicht. Pas a pas, se va luenh.
    Ich habe gesehen, wie das Grün des Frühlings dem Gold des Sommers wich, das Kupfer des Herbstes dem Weiß des Winters, während ich dasaß und auf das Verschwinden des Lichtes wartete. Immer und immer wieder habe ich mich gefragt, warum. Wenn ich gewusst hätte, wie es sein würde, völlig allein zu sein, der einzige Zeuge des endlosen Kreislaufs von Geburt und Leben und Tod, was hätte ich getan? Alaïs , meine Einsamkeit ist eine quälende Last. Ich habe dieses lange Leben mit Leere im Herzen erduldet, einer Leere, die mit den Jahren wuchs und wuchs, bis sie größer wurde als mein Herz selbst.
    Ich habe versucht, die Versprechen, die ich dir gab, zu halten. Das eine ist erfüllt, das andere blieb unerfüllt. Bis jetzt. Schon seit einiger Zeit spüre ich deine Nähe. Unsere Zeit ist beinahe wieder da. Alles deutet darauf hin. Bald wird die Höhle geöffnet werden. Ich spüre diese Wahrheit überall um mich herum. Und auch das Buch, das so lange Zeit in Sicherheit war, wird gefunden werden.
     
    Der Mann hält inne und greift erneut nach dem Glas. Seine Augen sind von der Erinnerung getrübt, doch der Guignolet ist stark und süß und belebt ihn.
     
    Ich habe sie gefunden. Endlich.
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