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Das verlassene Boot am Strand

Das verlassene Boot am Strand

Titel: Das verlassene Boot am Strand
Autoren: Scott O'Dell
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ernsthaft überlegen. Vielleicht kann ich gelegentlich auch einmal mit Pater Malatesta darüber sprechen. Er ist ein kluger Mann, aber er hat jetzt Wichtigeres zu tun.«
    Ich verließ das Büro und ging zur Höhle. Karana lag auf der Felsplatte, und das Feuer war verlöscht. Ich zündete ein neues an, setzte mich neben sie und nahm ihre Hand.
    Früh am nächsten Morgen ging ich wieder zur Höhle. Die Sonne tauchte am Horizont auf, und es herrschte Ebbe. Karana saß vor der Höhle, an die Felswand gelehnt. Sie streckte mir die Hand entgegen; sie war kalt und dünn.
    Karana besaß ein schönes Halsband aus schwarzen Steinen. Sie waren alle rund und glänzend, und in jedem blitzte tief innen ein Feuerfunke. Karana hatte dieses Halsband getragen, als ich sie zum ersten Mal sah; damals vor dem vergitterten Fenster der Zelle. Und sie hatte es seitdem immer getragen.
    Nun nahm sie das Halsband ab und legte es mir um den Hals. Sie lehnte sich wieder an die Felswand und sah zu, wie der Morgen strahlend heraufzog. Pelikane glitten im Gleitflug über die Brandung dahin, und weiter draußen sprühten junge Wale ihre schleierdünnen Fontänen.
    Wir saßen schweigend da, bis die Flut begann und die Glocke zum ersten Mal läutete. Ich stand auf und küßte sie zum Abschied.
    »Ich komme heute mittag wieder und bringe dir etwas zu essen. Keine Melone, die sind alle, aber etwas anderes, was dir schmeckt.«
    Karana schaute nicht wie sonst lächelnd zu mir auf. Sie hielt den Kopf zur Seite gewandt und schaute über das Meer. Und dann merkte ich, daß sie nicht mehr atmete.
    Manche sagten, Karana sei gestorben, weil sie im Freien geschlafen und sich dabei erkältet habe. Aber sie war es gewöhnt, bei jedem Wetter im Freien und am Strand zu leben. Andere meinten, sie habe irgendeine unbekannte Krankheit der Weißen bekommen. Beides traf nicht zu. Ich glaube, Karana ist aus einem anderen Grund gestorben. Ich glaube, sie mochte die Menschen in der Mission, obwohl sie aus ihrem Kreis ausgeschlossen blieb, weil sie ihre Sprache nicht verstand. Sie war zufrieden, wenn sie zuschauen konnte, wie die Vögel am Strand nach Nahrung suchten, wie die Wale ihre Fontänen sprühten, die Delphine spielten und die wilden Pferde durch die Brandung galoppierten. Sie mochte rote Melonen mit schwarzen Kernen und fiestas mit Musik und Tanz.
    Sie mochte das alles, aber sie vermißte trotzdem die Insel der blauen Delphine, wo sie geboren worden war und wo sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Sie vermißte ihre Insel tief in sich, an einer Stelle, die nicht mit Worten zu erreichen war und für die es keine Worte gab. Sie vermißte ihre Insel, so wie ich mein Dorf in den Bergen vermißte.
    Am nächsten Abend nach der Messe begruben wir Karana in der Nähe der Mission. Die Kerzen flackerten im kalten Seewind. An dem Abend nahm ich meine Decke und schlief bei ihrem Grab. Rontu-Aru lag neben mir.
    Zuerst mußte ich mich noch um Karanas kranke Tiere kümmern. Aber sie wurden eines nach dem anderen wieder gesund und konnten selbst für sich sorgen. Bald waren sie alle fort bis auf die Schlange mit den Smaragdaugen. Als ich zum letzten Mal in der Höhle war, lag sie immer noch in dem Loch in der Felswand neben dem Skelett des Riesenvogels.
     

29
     
    Es war noch dunkel, als ich die Mission verließ. Ich nahm einen Beutel voll Brot mit, das ich mir bei den Mahlzeiten abgespart hatte, einen Tontopf, um darin zu kochen und eine Decke, die ich schon lange vorher für diesen Tag gewebt hatte. Rontu-Aru gehorchte mir noch nicht, deshalb befestigte ich eine Schnur an seinem Halsband.
    Wir gingen leise durch das große Tor, wo uns jeder, der schon wach war, sehen konnte. Ich wollte es gerade hinter mir schließen, da sprach mich jemand an. Es war Pater Malatesta. Er kam aus der Kapelle und hielt ein Buch in der Hand.
    »Du bist schon früh auf«, sagte er.
    »Ja, ich habe einen weiten Weg vor mir und zu Mittag brennt die Sonne heiß vom Himmel.«
    »Und wohin möchtest du gehen?«
    »Weit weg, in die Berge. Zehn Tage weit nach Süden und drei Tage nach Osten.«
    »In dein Heimatdorf?«
    »Ja.«
    »Und wer hat dir die Erlaubnis dazu gegeben?«
    »Ich brauche keine Erlaubnis, Pater. Ich bin vor langer Zeit freiwillig hierhergekommen, und nun kehre ich heim. «
    »Magst du uns nicht?«
    »Ich mag euch, aber das hier ist nicht mein Zuhause.«
    »Gefällt es dir hier nicht? Bist du mit unserem Essen und unserem Haus nicht zufrieden? Gefällt dir unsere Sprache nicht? Willst du
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