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Das verdrehte Leben der Amélie

Das verdrehte Leben der Amélie

Titel: Das verdrehte Leben der Amélie
Autoren: India Desjardins
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wäre sie nicht 42, sondern so alt wie ich. Es reicht, wenn ihre Hormone in Berlin Amok laufen. Mit meinen plage ich mich lieber hier herum. Da kriegt es wenigstens keiner mit. Ich bin gerade sechzehn geworden und jetzt nämlich eine Frau, wie Martin sagt. Immerhin hat er das inzwischen kapiert! Dabei hatte ich bis vor Kurzem den Eindruck, er kann eine Frau nicht von einer korinthischen Säule unterscheiden.
    Weil Mama das Weite gesucht hat, war er gezwungen, den Nahen Osten zu verlassen und nach Hause zu kommen in den hohen Norden, wie es in den Touri-Prospekten immer so schön heißt. In Ägypten buddeln sie jetzt ohne ihn weiter, während er eine Stelle als Leiter der Ägyptischen Abteilung im Hamburger Völkerkundemuseum ausgegraben hat. Irgendwer musste schließlich für mich da sein. Und zur Abwechslung ist jetzt Martin dran, sagt Mama.
    Nun fährt er jedenfalls jeden Morgen eine Stunde bis zu seinen Mumien und Tonscherben und nimmt mich in seinem schrottigen Jeep mit bis Blankenese, wo meine Schule steht und wo Oma wohnt. Umziehen Richtung Stadt will er nicht. Einöde ist er von der ägyptischen Wüste gewohnt, sagt er, und die Hektik der Stadt verträgt er nicht mehr. Das führt dazu, dass ich am Wochenende in meinem unterirdischen Kaff „Wetten, dass ...?“ oder sonst irgendeinen Mist gucken darf, während meine Klassenkameraden bis morgens um vier den Hamburger Kiez unsicher machen. Heute zum Beispiel.
    Im Prinzip könnte ich auch bei Oma in Blankenese übernachten, aber da muss ich spätestens um eins zu Hause sein. Andere Uhrzeiten hält sie nicht aus, sagt sie, und außerdem sei das sowieso grober Unfug bei Sechzehnjährigen. Insbesondere solchen, die nur 1,58 Meter und fünf Millimeter klein sind und dabei noch nicht mal fünfzig Kilo auf die Waage bringen. So wie ich. Wo bitte ist da die Logik? Als obmeine Körpergröße was damit zu tun hätte, wie lange ich abends weggehen kann. Ein Uhr!! Dann kann ich’s auch gleich ganz lassen.
    Von Martins Zweieinhalb-Zoll-Bildschirm grinst mich Markus Lanz an, dieser perfekte Schwiegersohn. Und draußen pisst es wie blöd, Verzeihung: Es regnet Bindfäden. Mama kann es nicht ausstehen, wenn ich diese „Prollwörter“ benutze. Es pisst aber trotzdem. So wie vor drei Monaten, als das alles anfing. Dazu heult der Wind jetzt um die Ecken und reißt die Herbstblätter von den Bäumen, die sich wie gelborange nasse Lappen auf alles draufkleben, was noch vom Sommer draußen rumsteht. Der ideale Zeitpunkt also, um mit meiner Geschichte anzufangen ...

1
    Es war Anfang Juli. Wir hatten vier Wochen Dauerregen hinter uns und Martin war drauf und dran, seinen neuen Job im Museum aufzugeben und mit mir in die Wüste zu ziehen. Bis ihm eine weniger aufwendige Alternative einfiel. Er sei reif für die Insel, verkündete er eines Abends in Hochstimmung, während ein Rinnsal aus seinem klitschnassen Regenmantel sich auf dem Dielenboden zur Pfütze mauserte. „Wir fahren nach Sylt.“
    „Wann?“
    „Übernächste Woche, wenn deine Ferien anfangen.“
    „Das ist jetzt nicht dein Ernst.“
    „Selbstverständlich ist das mein Ernst. Sylt ist meine Lieblingsinsel, das weißt du doch.“
    „Aber nicht meine.“
    „Wart’s ab. Das gibt sich noch.“ Und damit war die Sache entschieden. Für ihn jedenfalls.
    Sylt. Ausgerechnet. Ich war auch reif für die Insel, aber nicht für diese. Gegen ein Eiland zweitausend Kilometer weiter südlich hätte ich ja nichts einzuwenden gehabt, aber Sylt, dieser sandige lange Haken in der Nordsee, der nur schlappe zweieinhalb Stunden von hier entfernt und damit wahrscheinlich auch gerade unter einer fetten Regenfront liegt – Sylt war komplett daneben. Schon deshalb, weil die betuchteren unter meinen Klassenkameraden, beziehungsweise ihre Erzeuger, dort eine Zweitwohnung haben oder ein Zweithaus. Oder einen Zweitortsteil. Was weiß ich. Jedenfalls waren das mit Abstand die Letzten, denen ich in den Ferien begegnen wollte mit ihren Hilfiger-Klamotten, ihren Hockeyschlägern und ihren Abercrombie & Fitch-Sweatshirts, die Papi von seinen Business-Trips in die Staaten gleich im Dutzend mitbringt. (Mein Vater hat mir nur mal so ein Hemd mitgebracht, wie es sich die Touris für ihre Nilfahrten aufschwatzen lassen. Aber Folklore kommt nicht so gut in meiner Klasse, noch nicht mal als Pyjama. Seit vorletztem Sommer trägt es Brittas Vogelscheuche zwischen den Erbsen auf.)
    Früher war das alles anders auf Sylt, sagt Martin. „Wir sind dort richtig
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