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Das verborgene Netz

Das verborgene Netz

Titel: Das verborgene Netz
Autoren: Oliver Bottini
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schien alles denkbar.
    Dass noch jemand an ihr dran war – oder an ihm.
    Bin noch mal unterwegs
, schrieb er.
    O. k.
, antwortete Gretzki.
     
    Mit dem Funkpeiler überprüfte er unauffällig, ob der Wagen in der Zwischenzeit verwanzt worden war. Dann fuhr er zum Kurfürstendamm, hielt sich stadteinwärts, bog ab, bog
wieder ab. Langsam glitt er durch Kopfsteinpflastergassen, seine Augen wanderten zwischen Straße und Rückspiegel hin und her. Gesichter, die für Momente ins Scheinwerferlicht gerieten, undeutliche Bewegungen außerhalb. Auch wenn er nicht mehr sein wollte wie Gretzki, beneidete er ihn doch um seine Ruhe. Gretzki war, was er tat, das machte ihn überlegen, und die Überlegenheit machte ihn ruhig. Er konnte den Schatten abstreifen. Konnte vergessen und vielleicht sogar vertrauen.
     
    Nach dreißig Minuten war Mike davon überzeugt, dass ihn niemand verfolgte. Wieder der Kurfürstendamm, der Verkehr stand, ein Pkw war auf einen der gelben Doppeldeckerbusse aufgefahren und hatte sich quergestellt. Auf den Gehsteigen zogen Touristenströme vorüber, an einer Fassade flammten die blauen Neonbuchstaben eines Varietés auf, erloschen im immer gleichen Rhythmus. Gretzkis abfällige Worte über Berlin fielen ihm ein. Er dagegen mochte alles an dieser Stadt. Die Möglichkeiten, die sie bot, die Unwirtlichkeit, die Weite, die baumbestandenen Seitenstraßen, selbst die schwerfälligen Busse und die verkniffenen Gesichter ihrer Fahrer.
    Die Phantasien, die Berlin auslöste, in denen alles denkbar war.
     
    Weitere zwanzig Minuten später trat er auf die Brandenburgische Straße und spürte von einem Schritt zum nächsten Gretzkis Augen auf sich liegen.
    Gretzki, der alles sah, alles wusste, natürlich auch, was er vorhatte.
    Langsam ging er auf das Café zu, in dem er sich mit Gretzki getroffen hatte. Stühle und Tische waren fort, auch
der langhaarige Alte mit dem unruhigen Hund war verschwunden.
    Als auf der Hotelseite der Straße eine Treppenhausbeleuchtung ansprang, kehrte er dorthin zurück. Eine Frau eilte auf den Gehsteig, er fing die zufallende Tür auf. In dem feucht riechenden, schmalen Flur verharrte er und beobachtete, wie die Tür mit einem Klicken ins Schloss glitt. Lautlos lief er in den dritten Stock hinauf. Neben einem Fenster zur Straßenseite blieb er stehen.
    Nachdem das Flurlicht erloschen war, nahm er das Nachtfernglas aus dem Rucksack und begann, die gegenüberliegende Gebäudefront abzusuchen, Fenster für Fenster, Haus für Haus.
    Fünf Minuten verstrichen, ohne dass ihm etwas Ungewöhnliches auffiel. Da vibrierte das Handy.
    Haus links von Cafe, s
chrieb Gretzki.
Treppe zum Sou.
    Mike hob das Fernglas. Ein Haus mit schmiedeeisernem Geländer, eine Treppe führte zum Souterrain, die Fenster vom Gehsteig halb verdeckt. Kein toter Winkel, aber viel Dunkelheit.
    Gleich
, schrieb Gretzki.
    Die Wolken gaben den Mond frei, und vor den beiden Linsen tauchte ein Frauengesicht auf. Schmale Brille, gewölbte Nase, kurzes Haar, der Blick in Richtung Hoteleingang gewandt. Der geschlossene Mund bewegte sich, sie kaute. Um den Hals ein Trageriemen, vielleicht eine Kamera, vielleicht ein Fernglas. Keine Private, das war leicht zu erkennen. Das Bewusstsein, auf der Seite des Staates zu stehen, prägte die Gesichter, die Körperhaltung. Eine besondere Form von Selbstsicherheit, die keinen Zweifel kannte.
    Mike fluchte stumm. Er zweifelte nicht daran, dass die
Frau wegen Esther dort unten stand. Die Lawine war in Bewegung geraten, und sie hatten es nicht bemerkt.
    Kannst du rausfinden, wer sie ist?
, schrieb er.
    Morgen wissen wir’s,
antwortete Gretzki.
    Mike beobachtete die Frau noch eine Weile, dann verstaute er das Fernglas im Rucksack. Er hatte nicht den Eindruck, dass sie von ihm und Gretzki wusste. Die Frage war nur, ob Esther von ihr wusste.
     
    Am Samstagmorgen Nieselregen, die Stadt vollkommen grau, als wäre alles Bunte aus ihr herausgesogen worden. Ändert sich erst im April wieder, hatte Gretzki mit einem müden Achselzucken gesagt, und Mike hatte sich gefragt, ob das die Schwachstelle in Gretzkis Panzer der Überlegenheit sein mochte: dass er seiner Heimat überdrüssig geworden war.
    Zwanzig vor neun, sie saßen in Gretzkis Passat, fünfzig Meter vom Hoteleingang entfernt.
    »Erzähl schon«, sagte Mike.
    Die Frau mit der Brille war um ein Uhr abgelöst worden, von einem Mann in einem zerknitterten Anzug. Schlechte Haltung, nachlässige Rasur, ein lustloser Beamter ohne Ehrgeiz und Stil,
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