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Das unsagbar Gute

Das unsagbar Gute

Titel: Das unsagbar Gute
Autoren: Christian Mähr
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der Frau Dr. Leupold und spürte, wie erwartet, keinen Puls.
    Schott erhob sich.
    Das war ein Schlag, das hier. Kein Schicksalsschlag, der ihn niedergeworfen hätte, sondern ein heimtückischer Rempler, der einen taumeln, das volle Tablett fallen lassen ließ, eine Gemeinheit, ein dummer Streich. Wenn es so etwas wie ein persönliches Schicksal gab – und Schott hatte in den vergangenen sechs Monaten immer weniger Grund, an der Existenz einer solchen Macht zu zweifeln –, dann war ihm diese Macht nicht wohlgesinnt. Auf diese spezielle Art, wie sich Antipathien in Schulen und Internaten herausbilden; ein Reihe idiotischer Streiche und Triezereien, alles harmlos und doch Grundstein lebenslanger erbitterter Feindschaften.
    So ein Schabernack war das Auffinden der toten Frau Dr. Leupold, mit der Schott zu ihren Lebzeiten keine drei Worte gewechselt hatte, denn was würde daraus entstehen: endlose Scherereien, vor allem aber Behördenkontakte, die Schott vor allen anderen Kontakten besonders verabscheute. Jetzt müsste er eine solche Behörde anrufen, welche eigentlich? Zuerst die Polizei, dann seine Anwesenheit im Haus erklären … der Kater hat sich so seltsam benommen – welcher Kater? Wo war der überhaupt? Sollte er ihn suchen? Schott spürte, wie ihn eine gewisse Panik ergriff. Er begann irrational zu werden. Er sollte nicht den Kater suchen, er sollte die Polizei anrufen. Verdammte Schweinerei.
    Er rief nicht an. Stattdessen ging er von Zimmer zu Zimmer in dem großen Haus, besuchte einen Raum nach dem anderen. In jedem spazierte er ein wenig herum, betrachtete die Möbel, die Bilder an den Wänden.
    Man muss das verstehen.
    Schott ging es nicht gut. Er hatte Sorgen. Job verloren. Vor sechs Monaten. Umstrukturierungsmaßnahmen bei der Zeitung, für die er fünfundzwanzig Jahre gearbeitet hatte. Fette Abfindung, das schon. Kein tiefes Loch oder sonstige Psychogeschichten, das nicht. Aber bis zur regulären Pension fehlten …er vergaß immer, wie viele Jahre, das war lächerlich, das war ja keine höhere Mathematik, er verdrängte nur den Gedanken, denn wenn er sich die Zahl endlich merken würde, dann würde er seine Abfindung durch ebendiese Zahl dividieren und das Ergebnis noch einmal durch zwölf, und heraus käme eine absurd niedrige Zahl, die wahrscheinlich nur drei Stellen hätte … davor hatte er Angst, vor diesem fiktiven Monatseinkommen, von dem er nicht würde leben können. Leben war noch das Wenigste; was er außerdem von dieser Summe nicht würde bestreiten können, war die Rate für das Haus. Bianca hatte bei der Scheidung auf das Haus verzichtet – gegen eine anständige Ablöse. Der gut verdienende Schott blieb im Haus und zahlte lieber mehr an die Exfrau. Keine weise Entscheidung.
    Schott hatte das Unglück nicht auf sich zukommen lassen, sondern versucht, dagegenzusteuern. Er suchte eine andere Stelle, fand aber nur schlecht bezahlte Freelancer-Jobs für Werbebüros. Immerhin, er fand sie. Und verlor sie wieder: lauter kleine Sticheleien des Schicksals. Noch schlimmer auf der zweiten Schiene. Er hatte versucht, literarische Arbeiten unterzubringen. Viele und oft. Einen Roman, ein Dutzend Erzählungen. Zwei davon waren gedruckt worden, in einem regionalen Literaturmagazin, das sich eines gewissen Ansehens bei den kulturell Interessierten erfreute. Jedenfalls bestätigten das alle, die er danach gefragt hatte. Außer diesem Ansehen, an dem er teilhaben konnte, gab es ein bescheidenes Abdruckhonorar. Mit den Früchten seiner literarischen Bemühungen hatte er, wenn er alles zusammenrechnete, drei oder vier Mal fein essen gehen können, damals noch an der Seite Biancas.
    Vom Roman waren ihm ein Ordner mit Ablehnungsschreiben und ein tiefer Hass auf all jene geblieben, die mit der Literatur professionell umgingen, gleich, ob als Verfasser, Lektoren, Verleger oder Kritiker. Die gehörten, dachte er,alle erschossen. Ohne Ansehen der Person. Die Welt wäre danach ein besserer Ort.
    Aber das waren nur Träume. Die Realität sah anders aus. Er lief in einem fremden Haus herum, in dessen erstem Stock die tote Hausbesitzerin lag, und je länger er das tat, herumlaufen nämlich, desto nachdenklicher würden die Blicke der Polizisten sein, die sie auf ihm ruhen ließen. Oder nicht? »Wann, sagten Sie, haben Sie die Katze bemerkt, Herr Schott?« – Diese Zeit der sozusagen ersten Kontaktaufnahme mit Sami konnte er ja beliebig nach hinten schieben; bis fünf Minuten vor den tatsächlich erfolgten
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