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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau
Autoren: Annette Hohberg
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Abbruchkante ein paar Bäume und Büsche ihre Wurzeln in die Erde krallten, als würden sie wissen, dass ein einziger Sturm ihr Schicksal besiegeln könnte. Nächstes Jahr wären sie vielleicht nicht mehr da. Wie ich, dachte Martha und wartete auf Tränen, die nicht kommen wollten. Sie gab dem Wind die Schuld daran, der hier mit salzig-schneidendem Atem sofort alles verblies.
    Stundenlang hatte sie dort an dem Strand auf einem Stein gesessen und auf das graue Wasser gesehen, dessen Schaumkronen Kommas zwischen ihre Gedanken setzten. Eine Aneinanderreihung von Bilderwellen, die da in ihr abliefen und keinen Punkt fanden, an dem sie stranden konnten.
    Hätte sie später jemand gefragt, was ihr so alles durch den Kopf geflutet war, sie hätte darauf keine Antwort geben können. Sie wusste nur, dass sie sich einen kalten Po geholt hatte auf diesem Stein und dass sie fror, als sie irgendwann wieder in ihr Auto stieg. So sehr fror, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und sich erst im geduldigen Gebläse der Heizung wieder beruhigten.
    Das ungeduldige Blinken des Anrufbeantworters zu Hause hatte sie ignoriert. Sie war früh zu Bett gegangen, um dann doch nicht zu schlafen. Stattdessen hatte sie dagelegen und Lebenszeit errechnet. Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten … Bei neun Monaten kam sie auf knapp vierhunderttausend Minuten, und sie knipste die Nachttischlampe an, weil sie plötzlich keine davon versäumen wollte.

[home]
    4
    A n Marthas Geburtstag kommt Lina zurück. Und während sie gemeinsam den Tisch decken und den Wein kalt stellen und die Platten anrichten, erzählt ihre Tochter von Schottland.
    Martha hört zu und nickt und stellt Fragen. Sie hat ihren inneren Autopiloten eingeschaltet, der sie davon abhält, die vorgegebene Route zu verlassen. Sie wird diesen Tag durchstehen und Glückwünsche entgegennehmen. Die Leute können schließlich nicht wissen, dass sie mit Sätzen wie »Auf die nächsten fünfzig Jahre!« bei ihr allenfalls jenes vertraute, den Katastrophen vorbehaltene Lachen auslösen würden.
    Irgendwann werden die roten Rosen geliefert, und fast wütend stellt Martha den Strauß in einen Putzeimer.
    Hans hat nie das richtige Maß gefunden; seine Gefühle ihr gegenüber hat er stets überzeichnet und ihr damit vor vielen, vielen Jahren die Ehe nahezu aufgenötigt. In einer Mischung aus Erstaunen und Gutgläubigkeit ergab sie sich damals diesem emotionalen Flächenbombardement und hielt das für die große Liebe. Ihr sonst so nüchtern analysierender Verstand schaltete mal eben alle Warnsysteme ab und versuchte später verzweifelt, die Sicherungskopien ihres Lebens wiederherzustellen. Zu dem Zeitpunkt hatte er nicht nur eine, sondern bereits mehrere Frauen gehabt. Er war der Typ Mann, der seine Affären brauchte wie andere ihr Lametta an Weihnachten. Ein bisschen Glitzern, ein bisschen Illusion, ein bisschen Tand. Als sie sich schließlich von ihm trennte, wirkte sein Weinen fast echt. Aber nur fast, Martha wusste, dass diese Tränen zum großen Teil ihm selbst galten – der Herzensbrecher durfte nicht mehr alle Bühnen bespielen, und das tat ihm selbst am allermeisten leid.
    Und nun diese Rosen … Martha spürt Linas Blicke, als sie die Blumen neben die Spüle stellt. Sie hat immer versucht, ihre Tochter aus allem herauszuhalten. Um doch irgendwann vor dieser Aufgabe zu kapitulieren. Lina hat sich Marthas Zorn übergezogen wie eine kugelsichere Weste, an der die Annäherungsversuche ihres Vaters fortan abgeprallt sind. Sie hat Hans die Schuld dafür gegeben, dass das Vater-Mutter-Kind-Märchen zerplatzt war wie die Seifenblasen, die sie als kleines Mädchen so gern in den Himmel hatte fliegen lassen.
    Jetzt lenkt Martha das Gespräch sofort auf anderes Terrain, fragt nach Eiswürfeln und Sektkühlern und schickt Lina ins Wohnzimmer, um die Kerzenleuchter zu holen.
     
    Als später die Gäste kommen und ihre Geschenke und Küsse und Komplimente abgeben, nimmt Martha alles mit einem Lächeln entgegen. Sie hat sich dieses Lächeln verordnet wie ein narkotisierendes Medikament und denkt dabei an die Chemotherapie, die ihre Ärztin ihr hatte verordnen wollen.
    Es läuft alles gut, es gibt Ansprachen und Wein, und es wird viel gelacht. Bis ihre alte Freundin Ingrid diesen Satz sagt.
    »Carpe diem ist eine Einstellung, die sich heute niemand mehr leisten kann.«
    Es ist, als hätte ihr jemand ohne Vorwarnung einen Stromstoß verpasst. Und ihr Lächeln macht sich davon und lässt sie plötzlich
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