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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau
Autoren: Annette Hohberg
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das Mitleid aus ihrer Stimme herauszuhalten, doch es gelang ihr nicht ganz. Da war ein leichtes Vibrieren, das Bedauern, Unsicherheit, Tröstenwollen zu einem tonnenschweren Paket verschnürte.
    »Kommen Sie am besten gleich her«, sagte sie. Und das hatte diese vielbeschäftigte Ärztin mit ihrem randvollen Terminkalender noch nie gesagt. Bislang hatte Martha immer warten müssen, mindestens vier, fünf Tage. Anscheinend duldete das hier keinen Aufschub.
     
    Zwei Stunden später saß sie in der onkologischen Abteilung der Universitätsklinik. Sie hatte sich Jeans angezogen, einen alten braunen Wollpulli und eine dicke beige Strickjacke; sie fröstelte, obwohl da draußen schönster Spätsommer war, mit einem strahlend blauen Himmel.
    Das Büro der Ärztin war ihr von früheren Besuchen vertraut. Es hing stets ein leichter Parfumduft darin, etwas mit Zitrusfrüchten. Ansonsten regierte Sachlichkeit, die jemand mit weiblichen Akzenten versehen hatte. Ein Resopalschreibtisch, auf dem peinliche Ordnung herrschte – Kalender, Tastatur, Monitor, Lampe mit Schwenkarm, daneben ein Foto von zwei Mädchen, sechs und zehn Jahre, schätzte Martha; sie lachten in die Kamera, eine der beiden zeigte eine Zahnlücke.
    Ein Regal mit Fachbüchern, ein paar Steinen und Muscheln und einer Kinderzeichnung mit zwei Menschen, die nur aus Köpfen, Armen und Beinen bestanden und die sich unter einer großen gelben Sonne an den Händen hielten. Ein gerahmter Kunstdruck an der Wand gegenüber, irgendwas von Miró, bunt, heiter, verspielt. Darunter zwei blaue Sessel mit Chrombeinen und ein Glastisch, auf dem immer eine weiße Porzellanvase mit Blumen stand. Heute waren gelbe Rosen darin, deren Köpfe bereits nach unten hingen, bevor sie sich richtig geöffnet hatten.
    Marthas Blick hielt sich an den leicht welken Rosenblättern fest, während sie zu verstehen versuchte, was die Frau auf der anderen Seite des Schreibtisches ihr gerade erklärte.
    Neue Metastasen in den Lymphgefäßen, in der Leber, in der Lunge. Keine günstige Prognose. Lebensverlängernde Maßnahmen. Zytostatika. Chemotherapie. Intravenös. Zyklen. Klinikaufenthalt. Worte wie Schläge. Martha merkte, dass sie sich duckte, um ihnen zu entgehen.
    »Frau Schneider?«
    Sie zuckte zusammen, und ihr Blick verließ die Rosenblätter. »Ja?«
    »Was meinen Sie?«
    »Entschuldigen Sie, ich war gerade … Meinen, wozu?«
    »Zur Chemotherapie.«
    »Hat das denn … überhaupt noch einen Sinn?«
    Die Ärztin lehnte sich zurück, und die Rückenlehne ihres Stuhls wippte ein wenig. »Ich sagte Ihnen ja schon, dass kaum Hoffnung besteht. Natürlich gibt es immer wieder Fälle von Spontanheilungen, aber …«
    »… das sind Märchen, glauben Sie?«
    »Was soll ich sagen? Ich bin Schulmedizinerin. Ich kenne die Studien, die Fakten, die Zahlen.«
    »Wird’s mir sehr schlechtgehen? Ich meine, mit dieser Chemo?«
    »Wir versuchen heute, die Nebenwirkungen so gut es geht …« Sie räusperte sich.
    »Seien Sie ehrlich«, unterbrach Martha sie. »Wird’s mir sehr schlechtgehen?«
    Die Frau ihr gegenüber nickte.
    »Haarausfall, Übelkeit, Schwäche … das ganze Programm?«
    Erneutes Nicken.
    »Um danach doch zu …?« Sie schluckte. Das Wort wollte einfach nicht raus, blieb ihr im Hals stecken.
    »Frau Schneider, Sie wissen …«
    »Wir müssen uns hier nichts vormachen.« Marthas Stimme klang schrill wie ein Verstärker, den irgendwer übersteuerte. »Was Sie versuchen, mir zu erklären, ist Folgendes: Ich kann diese ganze Prozedur auf mich nehmen, es mir richtig schlechtgehen lassen und auf ein Wunder hoffen, das wahrscheinlich nie eintreten wird. Ich kann aber auch mit den Haaren auf meinem Kopf noch ein bisschen weiterleben, ebenfalls auf ein Wunder hoffen und vielleicht etwas früher … nun ja, sterben …« Jetzt war es draußen, das Wort, reingespuckt in die Welt, um dort seine Spuren auszulegen. Sie würde mit diesem Wort leben müssen.
    »Was soll ich Ihnen sagen? Sie haben mich immer um meine ehrliche Meinung gebeten.«
    »Das tue ich auch jetzt.«
    »Ich muss Ihnen als Oberärztin hier all diese Behandlungen vorschlagen.«
    »Sie schlagen mir so eine Art Tod auf Raten vor, oder?«
    Die Frau ihr gegenüber atmete hörbar ein und wieder aus. Dabei verschränkte sie die Finger ineinander und widmete ihren Daumen mehr Aufmerksamkeit als nötig. Als könnten die ihr die Antwort geben, nach der sie gerade händeringend suchte.
    »Sind das Ihre Kinder?«, fragte Martha
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