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Das Tal der Wiesel

Das Tal der Wiesel

Titel: Das Tal der Wiesel
Autoren: A.R. Lloyd
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verwegener und flinker. Er untersuchte den Wald, eine vertraute und gleichzeitig eine neue Welt. Schnee bedeckte Eschenstumpf und Salweide, Pfade waren versteckt, Lichtungen verwandelt. Der Frost überzog die alten Bäume mit einer neuen Identität: Hier bildete ein gebogener Zweig im Mondlicht ein Dach, dort wuchsen den Ästen eisige Stalaktitenbärte. Der Boden war verhüllt, gestaltlos. Das Wiesel bedeckte ihn mit schlangengleichen Bewegungen, mal tief geduckt, dann wieder in einer Folge von Sprüngen und Sätzen.
    Er war tatsächlich klein. Zwischen der Wild suchenden Schnauze und der Schwanzspitze erstreckten sich ganze siebenundzwanzig Zentimeter rostbrauner Rücken und weißer Bauch. Aber er war ein Sausewind und bewegte sich mit der Behendigkeit eines Irrlichts. »Tchk – kkkk – chk. Ich will dir die Schritte des Todestanzes beibringen.«
    Die Schatten nahmen zu. Der Jäger war von dicken Stämmen umgeben: Hexenhöhlen, düster ausgestattet mit moosbewachsenem, brandigem Holz. Ein zugefrorenes Bächlein knirschte. Ein Ast knarrte. Kine blieb stehen und hob den Kopf, seine Nasenlöcher bebten. Die schneidend kalte Luft übertrug den Geruch von Kaninchen. Schnell glitt er voran, den pulsierenden Duft mit der Nase verfolgend. Die Dornen wilder Rosen und tückischer Brombeersträucher versuchten ihn aufzuhalten. Kine hüpfte über sie hinweg. Bei jedem Sprung kam er in eine andere Schräglage, schien im Gleitflug auf die Erde niederzugehen und hob sofort wieder ab. Dann tauchte vor ihm ein Lichthof auf, der ihn dazu veranlaßte, sein Tempo zu verlangsamen.
    Ein umgestürzter Baum lag auf der Lichtung, ein vermodernder Koloß im gleißenden Mondlicht. Um ihn herum, im Schnee, hatten nahrungssuchende Vögel Spuren hinterlassen. Einige von ihnen hockten nun schlafend auf den Ästen, die sich über dem Wiesel befanden. Hoch oben, in einer Eiche, kauerte eine Taube. Und noch eine. Weiter unten, wo die Äste dicker waren, saß ein Fasan, der hinuntersah und das graufarbene Kaninchen auf der Lichtung beobachtete – und Kine, wie er leichtfüßig zwischen den Bäumen hervorkam.
    Virtuos fing er an zu tanzen. Er bewegte sich mit einer vollendeten Eleganz. Es handelte sich um ein Ritual aus alter Zeit – und es war tödlich. »Tchk – kkkk – chk.« Kine schätzte die Entfernung, während das Kaninchen vor Unruhe zitterte. »Tchk – chk.« Er berechnete den Sprung in den Nacken. »Bleib stehen«, rief Kine der Jäger einladend, »und bewundere meine Geschicklichkeit!«
    Der Todesschrei des Kaninchens hallte durch das Tal. Dunkel zeichneten sich auf der weit entfernten Anhöhe die Umrisse eines Nerzweibchens ab, das sich auf die Hinterbeine stellte und angestrengt die Ohren spitzte. Aufrecht stehend erreichte der Nerz eine Größe von nahezu einem halben Meter, dazu kam der buschige Schwanz mit einer Länge von zwanzig Zentimetern. Er war ein Riese. Allein sein Schwanz hätte Kine niederzwingen können. Der langgestreckte, flachköpfige Körper war schwarz und wies viele vernarbte Stellen auf. Als er seine Lippen schürzte, kamen für einen kurzen Augenblick die messerscharfen Schneidezähne zum Vorschein. Dann drängte das Tier nach vorne und richtete sich wieder auf. Im Hintergrund erschienen weitere düstere Gestalten mit starrenden Augen, die im Mondschein wie Dolchspitzen funkelten.
    Kine verschlang seine Beute an den Wurzeln des Lebensbaumes, die zum Teil in den kleinen, zugefrorenen See hineinragten. Die alte Weide symbolisierte Wärme für ihn. Früher glaubten die Landbewohner, daß die Bäume magische Fähigkeiten besaßen. Dörfler hatten Haarbüschel oder persönliche Gegenstände an ihnen befestigt, um Gesundheit und Glück zu erlangen. Und sollte der Lebensbaum einmal krank werden, so standen schlechte Tage bevor. Kine glaubte nicht mehr, als seine Sinne ihm übermittelten. Für das Wiesel bedeutete der Lebensbaum das, was sein Name aussagte: In seinem lebendigen Innern war er wohlbehütet zur Welt gekommen.
    Der Eingang, ungefähr einen halben Meter über dem Erdboden, war gerade groß genug, um ein Wiesel hindurchzulassen. Dort, im Nest ihrer Mutter, waren vier Wieseljunge gesäugt worden, die in der Wärme der trockenen Blätter, mit denen das Versteck ausgelegt war, ihr Fell wachsen ließen. Er erinnerte sich genau an seine Mutter. Sie war eine ungestüme Beschützerin gewesen. Bei Gefahr schnappte sie ihre Jungen, eins nach dem anderen, und brachte sie schleunigst in Sicherheit, oder sie
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