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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen
Autoren: Ricardo Coler
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aktuellen Lage einfällt, teilt die Krankenschwester mir mit, sie könne gern
     eine Weile bei meinen Eltern bleiben. Sie habe bereits zu Hause Bescheid gesagt, ihre Kinder seien fürs Erste versorgt. Ich
     solle unbesorgt sein, sie wisse ja, dass ich in weiter Ferne unterwegs sei, und die alten Herrschaften könne man nicht allein
     lassen.
    Ich bin perplex und weiß vor lauter Dankbarkeit nicht, wie ich angemessen reagieren soll.
    »Danke, danke … Mir fällt ein Stein vom Herzen.«
    Krankenschwestern und Pflegerinnen haben eine besondere Fähigkeit, die mir abgeht: Sie verstehen sich auf die beneidenswerte
     Kunst, Verzweiflung zu lindern. Wenn Kinder noch sehr klein sind, nehmen wir uns mit Begeisterung der winzigen Körper an,
     waschen und wickeln sie, sind immer zur Stelle. Die Pflegerinnen bewahren sich diese Fähigkeit, ohne zwischen Alt und Jung
     zu unterscheiden. Es tut gut zu wissen, dass die Welt auch dieses menschliche Gesicht hat.

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    |129| 25
    Bevor ich mich auf den Weg zu Timoteo Arboledo mache, schaue ich bei der staatlichen Ambulanz vorbei. Dort treffe ich Doktor
     Jaime Spiri an, er sitzt allein in seinem Sprechzimmer. Ich nutze die Gelegenheit, komme mit ihm ins Gespräch und frage ihn,
     ob es eigentlich nähere Informationen über das Genom der Bewohner von Vilcabamba gäbe, und ob er glaube, dass die hohe Lebenserwartung
     erblich bedingt sei.
    Seit langem schon laufen Forschungen, die zum Ziel haben, die für langes Leben verantwortlichen Gene zu identifizieren. Als
     Modellorganismus dient der durchsichtige Fadenwurm Caenorhabditis elegans, ein Zwitter. Die DNA-Sequenz seines Genoms ist
     inzwischen vollständig entschlüsselt, doch nicht alle Ergebnisse der Grundlagenforschung am C. elegans lassen sich auf den
     Menschen übertragen.
    Eine spezielle Studie, die sich mit den Genen der Bewohner von Vilcabamba befasst, habe ich nicht |130| einsehen können, doch die Fakten sprechen für sich: Im Tal leben Menschen aus ganz verschiedenen Orten, es handelt sich also
     nicht um eine geschlossene Gemeinschaft, die isoliert von der Außenwelt lebt. Den Fremden geht es nach einem Aufenthalt in
     Vilcabamba gesundheitlich besser, und die Menschen, die in Vilcabamba geboren wurden und das Tal später verlassen, leben bei
     weitem nicht so lange wie diejenigen, die ihr ganzes Leben dort verbringen. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, denn viele
     Ecuadorianer arbeiten im Ausland, um die Familie zu versorgen – eine wichtige Einnahmequelle an Devisen auch für das Land.
     Die Langlebigkeit scheint also nicht erblich oder genetisch bedingt zu sein, sondern von den besonderen Gegebenheiten des
     heiligen Tales abzuhängen.
    Timoteos Haus liegt am Fuße eines Berges. Wie die anderen Häuser der alten Menschen, die ich besucht habe, ist es sehr einfach
     ausgestattet. Die Fassade besteht aus Ziegelsteinen und der Eingangsbereich aus gegossenem Beton. Die Wände sind unverputzt.
     Unter dem Dachvorsprung befinden sich ein Tisch und eine Bank. Neben der Tür steht ein Paar sehr abgenutzter Stiefel. Lenin
     klatscht in die Hände und ruft Timoteo Arboledos Namen, Víctor und ich tun es ihm gleich – keine Reaktion, nichts regt sich.
    |131| In den umliegenden Häusern lebt seine Familie, und wie sich herausstellt, ist der Jugendliche, der in einer Tür steht und
     uns schon die ganze Zeit beobachtet hat, einer seiner Enkel. Ich frage ihn, ob er wisse, wo sich Don Timoteo aufhält.
    »Kommen Sie.«
    Ich bin beladen wie ein Packesel. In meinem Rucksack befinden sich zwei Kameras, ein Satz Objektive, ein Aufnahmegerät, eine
     digitale Videokamera, ein externes Mikrofon, Ersatzbatterien, Filter und ein Reinigungskit für die Apparate. Das Stativ, auch
     nicht gerade leicht, trage ich in der Hand.
    Ich bin gern mit leichtem Gepäck unterwegs, aber wenn ausgerechnet hier die Kamera versagte und ich keinen Ersatz dabeihätte,
     würde ich mir das nie verzeihen. In weiser Voraussicht habe ich diesmal die komplette Ausstattung mit ins heilige Tal geschleppt
     – diese Umsicht hat schon etwas Zwanghaftes.
    Zu dritt folgen wir dem Jungen bis zu einem Weg. Plötzlich bleibt er stehen und deutet nach oben.
    »Da ist er.«
    »Wie?«
    »Von hier können Sie ihn nicht sehen«, er räuspert sich, »er ist hoch oben auf dem Berg.«
    »Das heißt …«
    |132| »Er steigt jeden Tag hinauf und kümmert sich um das, was er anbaut.«
    Wir beginnen mit dem Aufstieg. Lenin möchte mir mit dem Gepäck helfen, doch ich
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