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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier
Autoren: Philip Roth
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Mensch ist er?« »Wie mein Vater: ausgeglichen, extrem traditionell eingestellt, mit europäischen Ansichten. Das Wichtigste ist harte Arbeit und eine gute Ausbildung. Das vor allem. Und wie mein Vater stellt er die Familie über alles. Sehr religiös. Auch wenn er nicht so oft in die Kirche geht. Das tut mein Vater auch nicht. Aber meine Mutter. Und meine Großmutter. Meine Großmutter betet jeden Abend den Rosenkranz. Die Leute schenken ihr Rosenkränze. Sie hat ihre Lieblingsrosenkränze. Sie liebt ihren Rosenkranz.« »Gehen Sie in die Kirche?« »Als ich noch klein war. Jetzt nicht mehr. Meine Eltern sind anpassungsfähig. Kubaner ihrer Generation mußten zu einem gewissen Grad anpassungsfähig sein. Meine Familie würde es gern sehen, wenn wir in die Kirche gehen würden, mein Bruder und ich, aber nein, ich gehe nicht.« »Welchen Beschränkungen war ein kubanisches Mädchen, das in Amerika aufgewachsen ist, ausgesetzt, die nicht auch typisch für eine amerikanische Erziehung wären?« »Ach, ich mußte viel früher zu Hause sein. Wenn alle meine Freundinnen sich an Sommerabenden trafen. Mit Vierzehn oder Fünfzehn mußte ich im Sommer um acht Uhr zu Hause sein. Dabei ist mein Vater kein schrecklicher, furchteinflößender Kerl. Er ist einfach ein durchschnittlicher, netter Vater. Nur daß kein Junge mein Zimmer betreten durfte. Niemals. Andererseits - mit Sechzehn galten für mich, was das Nachhausekommen und so betrifft, dieselben Regeln wie für meine Freundinnen.« »Und wann sind Ihre Mutter und Ihr Vater hierhergekommen?« »1960. Damals ließ Fidel die Leute noch ausreisen. Sie haben in Kuba geheiratet. Zunächst sind sie nach Mexiko gegangen. Dann hierher. Ich bin natürlich hier geboren.« »Fühlen Sie sich als Amerikanerin?« »Ich bin zwar hier geboren, aber ich bin Kubanerin. Ganz eindeutig.« »Ich bin überrascht, Consuela. Ihre Stimme, Ihr Verhalten, die Art, wie Sie ›Kerl‹ und ›und so‹ sagen... Für mich sind Sie ganz und gar amerikanisch. Warum fühlen Sie sich als Kubanerin?« »Weil ich aus einer kubanischen Familie stamme. Das ist alles. Das ist der ganze Grund. Meine Eltern und Großeltern haben einen ungeheuren Stolz. Sie lieben ihr Land. Es ist in ihren Herzen. Es ist in ihrem Blut. Sie waren schon in Kuba so.« »Was lieben sie so sehr an Kuba?« »Ach, das Leben dort hat so viel Spaß gemacht. Es war eine Gesellschaft von Menschen, die das Beste aus der ganzen Welt genießen konnten. Absolut kosmopolitisch, besonders, wenn man in Havanna lebte. Und es war schön. Und es gabdiese herrlichen Feste. Es war ein wirklich schönes Leben.« »Feste? Erzählen Sie mir davon.« »Ich habe Fotos von meiner Mutter auf einem Kostümball. Als sie Debütantin war. Fotos von ihrem Debütantinnenball.« »Aus was für einer Familie stammt sie?« »Ach, das ist eine lange Geschichte.« »Erzählen Sie sie mir.« »Also, der erste Spanier in der Familie meiner Großmutter, der nach Kuba kam, wurde als General dorthin gesandt. Es gab eine Menge altes spanisches Geld in der Familie. Meine Großmutter hatte Hauslehrer, und mit Achtzehn fuhr sie nach Paris, um Kleider zu kaufen. In meiner Familie gibt es auf beiden Seiten spanische Adelstitel. Manche davon sind sehr, sehr alt. Meine Großmutter zum Beispiel ist eine Herzogin in Spanien.« »Dann sind Sie also auch eine Herzogin, Consuela?« »Nein«, sagte sie lächelnd. »Nur ein kubanisches Mädchen, das Glück gehabt hat.« »Man könnte Sie aber für eine Herzogin halten. Irgendwo im Prado hängt sicher das Bild einer Herzogin, die wie Sie aussieht. Kennen Sie das berühmte Gemälde Las Meninas von Velázquez? Dort hat die kleine Prinzessin allerdings helles Haar, blondes Haar.« »Nein, ich glaube, das kenne ich nicht.« »Es hängt im Prado, in Madrid. Ich werde es Ihnen zeigen.«
    Wir gingen die stählerne Wendeltreppe hinunter zu meinen Bücherregalen. Ich nahm einen großformatigen Bildband über Velazquez, und wir setzten uns nebeneinander an einen Tisch und blätterten fünfzehn Minuten lang darin. Es war eine bewegende Viertelstunde, in der wir beide etwas lernten: Sie erfuhr zum erstenmal etwas über Velázquez, und ich erfuhr zum wiederholten Male etwas über die herrliche Verrücktheit der Lust. All dieses Reden! Ich zeige ihr Kafka, Velázquez... Warum tut man das? Nun ja, irgend etwas muß man schließlich tun. Das sind die Schleier des Tanzes. Man darf das nicht mit Verführung verwechseln. Es ist nicht Verführung. Was man
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