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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel
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vertrauter gewesen war als die Südmarksburg. Doch jetzt erschien ihr das Haus selbst bei Tageslicht so fremd wie alles Übrige, weil sich die Welt verändert hatte, weil in einer einzigen Nacht alles Gewohnte und Alltägliche auf den Kopf gestellt worden war.
    Hier, in diesem Zimmer, hat uns Vater die Geschichte von Hiliometes und dem Mantikor erzählt.
Noch vor einem Tagzehnt hätte sie geschworen, dass sie sich immer ganz genau daran erinnern würde, wie es sich angefühlt hatte, gemütlich in die Decken auf dem Bett ihres Vaters gemummelt, erstmals die Geschichte vom großen Kampf des Halbgotts zu hören, aber jetzt stand sie hier, in ebendiesem Zimmer, und alles war plötzlich so verschwommen. War Kendrick auch dabei gewesen, oder hatte er schon geschlafen, weil er am nächsten Morgen in aller Frühe aufstehen wollte, um mit dem alten Nynor fischen zu gehen? Hatte da ein Feuer gebrannt, oder war es einer jener seltenen, richtig warmen Sommerabende auf dem M'Helansfels gewesen, an denen die Bediensteten angewiesen wurden, außer dem Küchenherd nichts zu beheizen? Sie erinnerte sich nur noch an die Geschichte und das übertrieben feierliche, bärtige Gesicht ihres Vaters beim Erzählen. Würde sie irgendwann auch das vergessen? Würde ihre gesamte Vergangenheit auf diese Weise verschwinden, nach und nach, wie Wagenspuren im Erdboden, wenn es regnete?
    Eine Bewegung am Rand ihres Gesichtsfelds schreckte sie auf — etwas huschte die Scheuerleiste entlang. Eine Maus? Sie schlich sich zu der Ecke des Raums und scheuchte irgendein Geschöpf hinter einem Tischbein hervor, doch ehe sie erkennen konnte, was es war, verschwand es hinter einem Wandbehang. Für eine Maus war es ihr zu aufrecht erschienen — vielleicht ein Vogel, der sich ins Haus verirrt hatte? Aber Vögel hüpften doch, oder? Seltsam ängstlich zog sie den Wandbehang ab, aber da war nichts.
    Eine Maus,
dachte sie.
Ist die Rückseite des Wandteppichs hinaufgekrabbelt und schon wieder irgendwo im Dach. Das arme Ding hat sich wahrscheinlich zu Tode erschrocken, als plötzlich jemand hier hereinkam — das Haus stand ja über ein Jahr leer.
    Sie fragte sich, ob sie es wagen sollte, die Tür zu König Olins Schlafzimmerbalkon zu öffnen. Es juckte sie, zur Burg hinüberzuschauen. Vielleicht war die ja auch schon so unwirklich geworden? Aber die Vorsicht siegte. Sie ging durchs Zimmer zurück, vorbei an dem kahlen Bett. Auf allen Oberflächen lag eine dünne Staubschicht, als wäre der Raum die Gruft eines alten Propheten, wo niemand etwas zu berühren wagte. In einem normalen Jahr wären die Türen zum Lüften aufgerissen worden, während die Bediensteten eifrig fegten und wischten. Frische Blumen hätten in der Vase auf dem Schreibtisch gestanden (nur gelbes Kreuzkraut so spät im Jahr), und der Waschkrug wäre voll Wasser gewesen. Stattdessen saß ihr Vater jetzt irgendwo in einem Raum gefangen, der wahrscheinlich viel kleiner war als dieser — vielleicht nur eine finstere Zelle, wie das Kerkerloch, in dem Shaso geschmachtet hatte. Hatte Olin ein Fenster, durch das er etwas sehen konnte — oder nur dunkle Mauern und verblassende Erinnerungen an sein Zuhause?
    Sie durfte gar nicht daran denken. Es gab dieser Tage so vieles, woran sie gar nicht denken durfte.
     
    »Hast du nicht gesagt, er habe kaum etwas gegessen?«, sagte Briony und deutete mit dem Kopf zu Shaso hinüber. Sie hielt den Proviantsack vor sich. »Der ganze Dörrfisch ist weg? Warst du das? Da waren noch drei Stücke, als ich das letzte Mal reingeschaut habe.«
    Ena blickte in den Sack und sagte dann lächelnd: »Ich glaube, das war ein Geschenk.«
    »Ein Geschenk? Was soll das heißen? An wen denn?«
    »An das kleine Volk — die Kinder des Herrn der Lüfte.«
    Briony schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ein Geschenk an die Ratten und Mäuse wohl eher. Ich habe gerade eine gesehen.« Sie glaubte nicht an diese albernen alten Geschichten, die die Köchinnen und Küchenmägde immer erzählten, wenn irgendetwas fehlte:
»Oh, das war bestimmt das kleine Volk, Hoheit. Die Alten müssen es genommen haben.«
Es gab ihr einen Stich ins Herz, als sie daran dachte, was Barrick zu solchen Hirngespinsten sagen würde. Sie hörte förmlich den vertrauten spöttischen Ton. Sie vermisste ihn so sehr, dass ihr die Tränen kamen.
    Gleich darauf erkannte sie die Ironie der Situation: Ihr Bruder, der für das Gerede vom »kleinen Volk« nichts als Verachtung übrig gehabt hätte — sie trauerte um ihn ... weil
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