Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier
Autoren: David Brooks
Vom Netzwerk:
Janine Willis und Alexander Todorov von der Princeton University haben herausgefunden, dass Menschen binnen einer Zehntelsekunde Urteile über die Vertrauenswürdigkeit, Tüchtigkeit, Aggressivität und Liebenswürdigkeit einer Person fällen. Solche Einschätzungen auf den ersten Blick sagen erstaunlich genau vorher, wie sich die Betreffenden Monate später gegenseitig beurteilen; Menschen korrigieren ihre ersten Eindrücke nur selten, eher wächst ihre Überzeugung, dass sie damit richtig lagen. 8 In einer anderen Studie zeigte Todorov seinen Versuchspersonen für Sekundenbruchteile Bilder der Gesichter konkurrierender Politiker. Seine Probanden sagten mit einer Treffgenauigkeit von 70 Prozent voraus, welcher der beiden Kandidaten die Wahlen gewinnen würde. 9
    Julia fiel spontan auf, dass Rob zwar gut aussah, aber dass er nicht zu den Männern gehörte, die so attraktiv sind, dass sie nicht auch interessant sein müssten. Während Rob sie im Geiste auszog, befasste sie sich genauer mit seiner Kleidung. Er trug eine braune Cordhose, die der westlichen Zivilisation alle Ehre machte, und einen Pullover in Dunkelviolett, weshalb er insgesamt wie eine elegante Aubergine aussah. Er hatte zwar kräftige Wangen, aber keine Hamsterbacken, was darauf hindeutete, dass ihm das Alter wenig anhaben konnte und er eines Tages der bestaussehende Mann in einer Vollpflege-Seniorenresidenz sein würde.
    Er war hoch gewachsen, und da laut einer Studie im heutigen Amerika jedes Zoll Körpergröße einem Jahresgehalt von 6000 Dollar entspricht, war das nicht ganz belanglos. 10 Er strahlte eine Art innere Ruhe aus, die einen zur Raserei würde treiben können, wenn man sich mit ihm streiten wollte. Für Julias rasch urteilendes Auge wirkte er wie einer jener vom Schicksal verwöhnten Menschen, in deren Psyche keine tiefen Narben oder offenen Wunden zu finden sind, wegen derer man besonders behutsam mit ihnen umgehen müsste.
    Doch gerade als sich ihre positiven Einschätzungen immer mehr häuften, kippte ihre Stimmung. Sie wusste, dass in ihrem Innern ein hyperkritischer Besserwisser saß – einer ihrer weniger attraktiven Charakterzüge. Es war ihr schon öfter passiert, dass sie es zuerst sehr genossen hatte, mit einem normalen Typen zusammenzusein, dann aber plötzlich begonnen hatte, diesen Mann ganz genau unter die Lupe zu nehmen. Von dem Moment an dauerte es nicht lange, bis ihr Sarkasmus einsetzte und von dem Typen, metaphorisch gesprochen, nur noch eine riesige Blutlache übrig blieb.
    Julias innerem Besserwisser fiel auf, dass Rob zu der Sorte Mann gehörte, der es egal ist, ob ihre Schuhe poliert sind oder nicht. Seine Fingernägel waren unterschiedlich lang. Außerdem war er Junggeselle. Julia misstraute unverheirateten Männern, weil es ihnen ihres Erachtens an Ernsthaftigkeit mangelte. Da sie sich niemals mit einem verheirateten Mann verabredet hätte, schränkte dies das Potenzial an Männern, in die sie sich vorbehaltlos verlieben konnte, nicht unwesentlich ein.
    John Tierney von der New York Times hat behauptet, viele Singles litten an einer »Fehlersuchautomatik«, einem inneren Mechanismus, der bei einem potenziellen Partner sofort Unzulänglichkeiten aufspürt. Ein Mann kann gut aussehen und geistreich sein, so Tierney, aber er wird aussortiert, weil er schmutzige Ärmel hat. Eine Frau mag Partnerin einer großen Anwaltskanzlei sein, aber sie fällt beim Beziehungstest durch, weil sie »Goethe« nicht richtig ausspricht. 11
    Julia hatte allen Grund, dem »Männer-sind-Schweine«-Stereotyp, wie es Wissenschaftler nennen, zunächst einmal zu vertrauen. Frauen gehen an zwischenmenschliche Begegnungen mit unbewussten Erwartungshaltungen heran, wie etwa der Annahme, dass Männer vor allem an gelegentlichem Sex und an mehr nicht interessiert sind. Sie gleichen darin überempfindlichen Rauchmeldern, die falschen Alarm bereitwillig in Kauf nehmen, weil es besser ist, zu vorsichtig zu sein, als allzu vertrauensselig. Männer wiederum sind in hohem Maße anfällig für die umgekehrte Fehleinschätzung: Sie sehen sexuelles Interesse selbst dort, wo keines vorhanden ist. 12
    In nur wenigen Augenblicken durchlief Julia mehrere Zyklen von Hoffnung und Misstrauen. Leider gewannen ihre negativen Urteile die Oberhand. Ihr innerer Besserwisser ging mit ihr durch. Doch dann kam Rob zum Glück auf sie zu und begrüßte sie.
    Das Essen
    Wie das Schicksal es wollte, waren Rob und Julia füreinander bestimmt. Auch wenn es immer heißt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher