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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen
Autoren: Jan Costin Wagner
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irgendwann länger über den Tod
    seiner Frau zu sprechen, weil er das Gefühl nicht los
    wurde, dass dieser Mann in aller Stille am Tod seiner
    Frau verrückt wurde, und mit Verrückten, vor allem
    mit Verrückten in jungen Jahren, kannte Ketola sich
    aus.
    Er begrüßte wie an jedem Morgen den Mann an der
    Pforte. Mit einem Nicken, und der Mann hinter der Glas-
    scheibe nickte zurück. Wenn er sich nicht sehr täuschte,
    hatten er und der Mann hinter der Scheibe sich jeden
    Tag auf diese Weise gegrüßt, ohne die ganzen Jahre
    über ein Wort zu wechseln. Er musste später noch mal
    darüber nachdenken, aber im ersten Moment erinnerte
    er sich wirklich nicht an ein einziges Gespräch.
    Ketola fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock und
    ging über den dunklen Flur zu seinem Büro. Er
    schaltete das Licht ein, setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Ein ganz neues Gerät,
    auf dem aktuellen Stand der Technik, obwohl auch die
    Vorgängercomputer gut funktioniert hatten und vor
    allem Ketola nach langem Üben in der Lage gewesen
    war, das Betriebssystem zu bedienen.
    Aber die Direktion war auf die Investition so stolz ge-
    wesen, dass sie einen großen Artikel in der Tageszeitung
    platziert hatte. Nurmela hatte bereitwillig und ziemlich
    überzeugend vor einem der Geräte posiert, obwohl
    Nurmela im Team der einzige war, der von neuen
    Technologien noch weniger verstand als Ketola selbst.
    Und Tuomas Heinonen hatte der beeindruckten
    Journalistin gezeigt, was man mit diesen Computern
    und diesem perfekt vernetzten System alles machen
    konnte, denn Heinonen war in diesen Dingen sehr
    bewandert, er hatte auch Ketola häufig geholfen, wenn
    dessen Bildschirm schwarz wurde oder sich
    Fehlermeldungen einstellten, und dabei hatte Heinonen
    eine bemerkenswerte Geduld bewiesen.
    Ketola hatte Nurmela zuliebe an den Schulungen
    wichtigtuerischer IT-Experten teilgenommen, obwohl
    alle wussten, dass er nur noch wenige Wochen mit den
    neuen Computern arbeiten würde. Er kicherte schon
    wieder bei der Erinnerung an die Seminar-Tage, denn er
    hatte sich da wirklich ein wenig gehen lassen, hatte
    manchmal wie ein kleines Kind im Schulunterricht
    Witze gerissen, war ein Mal sogar so lange auf seinem
    Stuhl hin- und hergeschaukelt, bis er ziemlich hart zu
    Boden gefallen war.
    Heinonen, der neben ihm gesessen hatte, war zu-
    sammengezuckt, Petri Grönholm hatte schallend ge-
    lacht, sogar der immer ernste Kimmo hatte gegrinst,
    und der Referent hatte endlich mal für zwei Sekunden
    sein Maul gehalten und ihn angestarrt wie einen Außer-
    irdischen.
    In seinem Alter durfte man sich diese kleinen Extra-
    vaganzen schon mal gönnen, fand Ketola, schließlich
    wollte er auch gar nicht wissen, und ihm wurde fast ein
    wenig schwindlig bei dem Gedanken, was auf den Flu-
    ren dieses Hauses alles über ihn geredet wurde.
    Auf dem Bildschirm leuchteten inzwischen die vielen
    kleinen Symbole auf kräftigem blauem Hintergrund.
    Die Standardeinstellung des Herstellers. Alle anderen
    hatten diverse Hintergrundbilder für ihre neuen
    Bildschirme gefunden, Heinonen einen Sonnenstrand,
    Grönholm den Star des finnischen Eishockeys, der er-
    folgreich in der Nordamerikanischen Profiliga spielte,
    und Kimmo Joentaa ein Bild einer roten Kirche vor
    blauem Wasser.
    Immer wenn Ketola dieses Bild sah, spürte er einen
    Stich in der Magengegend, und offen gesagt, empfand
    er es als eine Art Zumutung, sich dieses Bild jeden Tag
    mehr oder weniger bewusst ansehen zu müssen. Auf
    dem Friedhof zwischen der roten Kirche und dem Meer
    lag Kimmos Frau begraben, Ketola war dort gewesen
    am Tag der Beerdigung. Der Umstand, dass Kimmo ein
    Foto dieser Kirche für den Bildschirm gewählt hatte,
    warf einige Fragen auf. Zum Beispiel, was in diesem
    Mann eigentlich vorging. Wie sollte jemand ein solches
    Erlebnis bewältigen, wenn er ihm tagtäglich gegenüber
    saß? Ketola wurde nicht schlau daraus.
    Er saß eine Weile zurückgelehnt und sah aus dem
    Fenster. Es war unvermindert dunkel, auf der Scheibe
    sammelten sich Schneeflocken, die zusehends zu einer
    weichen, weißen Masse verschwammen.
    Wenn Ketola die Sache richtig sah, hatte er hier nicht
    mehr viel zu suchen. Seinen Schreibtisch hatte er schon
    in der vergangenen Woche geräumt, hatte mitgenom-
    men, was er behalten wollte, und entsorgt, was zu ent-
    sorgen war. Er hatte vermeiden wollen, das am letzten
    Tag in Hektik und am Ende noch in trüber oder aufge-
    kratzter Stimmung machen zu
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