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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition)
Autoren: Eowyn Ivey
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erinnerte sich an den Nachmittag vor nicht ganz zwei Jahren. Sonnig und strahlend. Der Duft der Obstwiese lag in der Luft. Jack saß auf der Verandaschaukel seines Elternhauses und beschattete die Augen vor der Sonne. Es war ein Familienpicknick, doch sie waren diesen einen Moment unter sich. Sie hatte den zusammengefalteten Handzettel aus der Tasche ihres Kleides gezogen – «Juni 1918. Alaska, unsere neue Heimat.»
    Sie sollten gehen, sagte sie.
    Nach Hause?, fragte er.
    Nein, sagte sie und hielt ihm die Anzeige hin. Nach Norden.
    Die Bundesregierung suchte Farmer, die sich entlang der neuen Bahnstrecke ansiedelten. Die Alaska-Eisenbahn und eine Dampfschifffahrtsgesellschaft boten denen, die so mutig waren, sich auf die Reise zu machen, verbilligte Tarife an.
    Sie hatte sich um einen gelassenen Tonfall bemüht, damit die Verzweiflung ihr nicht die Stimme brach. Jack begegnete ihrer neuen Begeisterung mit Skepsis. Sie wurden beide bald fünfzig. Gewiss, als junger Mann hatte er davon geträumt, nach Alaska zu gehen, sich in einer so wilden, großartigen Gegend zu bewähren, aber war es dafür jetzt nicht zu spät?
    Solche Zweifel hatte Jack mit Sicherheit, sprach sie aber nicht aus. Er verkaufte seinen Brüdern seinen Anteil an dem Land und dem Betrieb. Mabel packte die Koffer voll mit Geschirr und Töpfen und so vielen Büchern, wie hineinpassten. Sie fuhren mit der Eisenbahn an die Westküste, dann mit dem Dampfer von Seattle nach Seward, Alaska, und wieder mit dem Zug nach Alpine. Ohne Vorankündigung, ohne irgendwelche Anzeichen von Zivilisation hatte der Zug unterwegs hin und wieder gehalten, ein einzelner Mann war ausgestiegen, hatte sein Gepäck geschultert und war zwischen Fichten und Flusstälern verschwunden. Mabel hatte ihre Hand auf Jacks Arm gelegt, aber er starrte mit unergründlicher Miene aus dem Zugfenster.
    Sie hatte sich ausgemalt, wie sie beide auf grünen Feldern arbeiten würden, umringt von Bergen, so hoch und schneebedeckt wie die Schweizer Alpen. Die Luft würde klar und kalt sein, der Himmel unendlich weit und blau. Seite an Seite, verschwitzt und müde, würden sie sich gegenseitig anlächeln, wie sie es als junge Liebende getan hatten. Es würde ein hartes Leben werden, aber es würde ihnen allein gehören. Hier am Rand der Welt, weit entfernt von allem, was vertraut und sicher war, würden sie sich inmitten der Wildnis ein neues Heim bauen, als Partner, weit entfernt von den Schatten kultivierter Obstgärten und den Generationen erwartungsvoller Familienmitglieder.
    Aber hier waren sie nun. Nie zusammen auf den Feldern. Sprachen immer weniger miteinander. Im ersten Sommer hatte sie in der Stadt in dem schmuddeligen Hotel gewohnt, während Jack das Blockhaus und den Stall baute. Auf der Kante der schmalen Matratze sitzend, auf der gewiss mehr Bergarbeiter und Pelztierjäger gelegen hatten als Frauen aus Pennsylvania, erwog Mabel, ihrer Schwester zu schreiben. Sie war allein. Die unermüdliche Sonne vergönnte ihr nicht einen Augenblick Ruhe. Aus allem, was sie vor sich sah – den Spitzengardinen am Fenster, der Schindelverschalung, ihren eigenen alternden Händen –, war die Farbe gewichen. Wenn sie das Hotelzimmer verließ, gab es nur einen einzigen schlammigen, tief gefurchten Pfad entlang den Bahngleisen. Er begann zwischen Bäumen, und er endete zwischen Bäumen. Keine Bürgersteige. Keine Cafés oder Buchhandlungen. Nur Betty in ihren Männerhemden und Arbeitshosen mit ihren ewigen Ratschlägen, wie man Sauerkraut und Elchfleisch einmacht, wie man das Jucken von Mückenstichen mit Essig lindert, wie man Bären durch das Blasen in ein Rinderhorn abwehrt.
    Mabel wollte ihrer Schwester schreiben, konnte aber nicht eingestehen, dass sie einem Irrtum erlegen war. Alle hatten sie gewarnt, dass Alaska nur für vereinsamte Männer und anspruchslose Frauen etwas sei, dass für sie kein Platz sei in der Wildnis. Sie drückte die Anzeige, die eine neue Heimat verhieß, an die Brust und schrieb keinen Brief.
    Als Jack sie dann auf das Gehöft holte, war sie entschlossen, an ihren Traum zu glauben. Das also war Alaska – rau, hart. Ein Holzhaus aus frisch geschlagenen, entrindeten Baumstämmen, ein Fleckchen Erde voller Baumstümpfe als Hof, Berge, deren Zacken sich in den Himmel bohrten. Jeden Tag fragte sie, kann ich mit dir auf die Felder kommen, und er sagte nein, bleib hier. Abends kam er mit gebeugtem Rücken zurück, übersät mit blauen Flecken und Insektenstichen. Sie kochte und
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