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Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend

Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend

Titel: Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend
Autoren: Charles Bukowski
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trank das Glas aus, schenkte mir nach, trank auch das und legte mich wieder schlafen.

    57

    Eines Tages wurde ich von Mrs. Curtis aufgefordert, nach dem Englischkurs noch zu bleiben. Sie hatte großartige Beine und lispelte, und diese Kombination machte mich irgendwie scharf. Sie war etwa zweiunddreißig und sehr kultiviert, doch wie alle anderen war auch sie eine gottverdammte Linksliberale, und das erforderte nicht viel Originalität oder Anstrengung, es war nichts als eine abgöttische Nachahmung von Franky Roosevelt.
    Ich mochte Franky wegen seiner Maßnahmen für die Armen während der Wirtschaftskrise und auch wegen seines Stils, aber ich glaube, die Armen waren ihm in Wirklichkeit völlig egal. Immerhin, er war ein bemerkenswerter Schauspieler, hatte eine prachtvolle Stimme und einen erstklassigen Redenschreiber. Doch er wollte uns unbedingt in diesen Krieg hineinziehen. Das würde ihm einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern. Präsidenten, die einen Krieg führten, bekamen mehr Machtbefugnisse und hinterher mehr Seiten im Geschichtsbuch. Mrs. Curtis war genau so eine wie der alte Franky, nur dass sie die besseren Beine hatte. Der arme Franky konnte mit seinen Beinen nichts mehr anfangen, aber dafür hatte er einen unglaublichen Verstand. In einem anderen Land hätte er ein mächtiger Diktator sein können.
    Als alle draußen waren, ging ich zu Mrs. Curtis nach vorn ans Pult. Sie schaute hoch und lächelte mich an. Ich hatte viele Stunden nur ihre Beine angestarrt, und das wusste sie auch. Sie wusste, was ich wollte, und dass mir ihr Lehrstoff nichts zu bieten hatte. Sie hatte nur einmal etwas gesagt, das mir in Erinnerung geblieben war. Es war offensichtlich nicht auf ihrem Mist gewachsen, aber es gefiel mir: »Man kann die Dummheit des breiten Publikums gar nicht überschätzen.«
    »Mr. Chinaski«, sagte sie jetzt, »wir haben in diesem Kurs gewisse Studenten, die glauben, sie
wüssten schon alles.«
»Ja?«
»Mr. Feiton hält sich für besonders schlau.«
»Wenn Sie meinen.«
»Was stört Sie denn hier?«
»Wie?«
»Etwas stört Sie doch anscheinend …«
»Kann schon sein.«
    »Sie werden nach diesem Semester abbrechen, habe ich recht?« »Wie haben Sie das erraten?«
    Ich hatte mich von ihren Beinen bereits verabschiedet. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass das College nur ein Ort war, wo man sich herumdrückte. Es gab einige ewige Studenten, die gar nicht mehr weg wollten. Das College war eine durch und durch schlappe Szene. Man bekam hier nie gesagt, was einen draußen in der harten Wirklichkeit erwartete. Sie stopften einen mit theoretischem Zeug voll, aber sie sagten einem nicht, wie hart das Straßenpflaster war. Ein College-Studium konnte einen Menschen für den Rest seines Lebens kaputtmachen. Die Bücher gaukelten einem vor, das Leben sei leicht. Wenn man sie weglegte und wirklich da raus ging, musste man etwas wissen, was man hier nie erfahren hatte. Ich hatte beschlossen, nach diesem Semester auszusteigen und mich mit Stinky und der Bande herumzutreiben.
    Vielleicht würde ich an jemanden geraten, der genug Mumm hatte, um einen Spirituosenladen
zu überfallen. Oder besser noch - eine Bank.
»Ich wusste, dass Sie aufhören würden«, sagte sie leise.
»Erst mal richtig anfangen, würde ich eher sagen.«
    »Es wird Krieg geben. Haben Sie >Sailor Off The Bremen< gelesen?« »Das Zeug aus dem >New Yorker< gibt mir nichts.«
    »Sie müssen aber solche Sachen lesen, wenn Sie verstehen wollen, was heute vorgeht.« »Das finde ich nicht.«
    »Sie rebellieren immer nur gegen alles. Wie wollen Sie im Leben durchkommen?« »Ich weiß nicht. Ich fühl mich jetzt schon schlapp.«
    Mrs. Curtis betrachtete lange die Platte ihres Pults. Dann sah sie wieder zu mir hoch. »Wir werden in den Krieg hineingezogen, so oder so. Werden Sie sich freiwillig melden?« »Das spielt doch keine Rolle. Vielleicht ja, vielleicht nicht.« »Sie würden einen guten Matrosen abgeben.«
    Ich lächelte. Ich überlegte, wie ich mich als Matrose fühlen würde und entschied mich dagegen.
    »Sie müssten nur noch ein Semester durchhalten«, sagte sie, »dann könnten Sie alles haben, was Sie wollen.«
    Sie sah mich an, und ich wusste genau, was sie damit sagen wollte. Und sie wusste, dass ich es
wusste.
»Nein«, sagte ich. »Ich mach hier Schluss.«
    Ich ging zur Tür, blieb stehen, drehte mich um und nickte ihr flüchtig zum Abschied zu. Dann ging ich draußen unter den Bäumen des Campus entlang. Überall sah man
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