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Das Raetsel von Flatey

Das Raetsel von Flatey

Titel: Das Raetsel von Flatey
Autoren: Viktor Arnar Ingólfsson
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habe. Ich bin am
Boden zerstört wegen der Scherereien, die ich verursacht
habe.«
    »Wir werden schon darüber
hinwegkommen«, erwiderte Kjartan.
    Wieder schwiegen sie eine
Weile.
    »Soweit ich weiß, reist
du nicht gerne«, sagte Kjartan
schließlich.
    »Das stimmt«, entgegnete
Kolk.
    »Aber jetzt muss es wohl
sein?«
    »Ja, die wollen es
unbedingt.«
    »Wann hast du das letzte Mal
die Insel verlassen?«
    »Das ist schon ziemlich lange
her.«
    »Wie
lange?«
    Kormákur Kolk dachte ein wenig
nach, bevor er antwortete: »Als Jugendlicher bin ich ein paar
Mal aufs Festland gekommen, wenn die Schafe transportiert wurden,
und ich bin auch früher von den Inseln aus zum Fischen
ausgerudert. Aber weiter bin ich nicht gekommen, und als ich
neunzehn Jahre war, hat man mir einen bösen Streich gespielt,
und seitdem habe ich eine unüberwindliche Abneigung gegen
Seereisen aller Art. Damit bin ich durchgekommen und nie wieder zur
See gewesen. Es gab immer genug für mich hier auf Flatey zu
tun. Jetzt werde ich bald siebzig, also ist es schon fünfzig
Jahre her.«
    »Du bist also insgesamt
fünfzig Jahre lang ununterbrochen auf Flatey
gewesen?«
    »Ja, und ich beklage mich
nicht. Ich fühle mich wohl hier, und ich habe nichts auf dem
Festland verloren. Wo sollte ich auch hingehen? Nach
Stykkishólmur vielleicht oder nach Reykjavík, um dort
Geld auszugeben? Nein, mein Lieber. Das Leben hat mich gut
behandelt.«
    Kjartan wurde nachdenklich.
Fünfzig Jahre auf einer Insel, die ungefähr zwei
Kilometer lang war und einen halben Kilometer breit. War das viel
besser, als im Gefängnis zu sitzen? Vielleicht, wenn man keine
großen Ansprüche stellte.
    Es schien, als könne
Kormákur Kolk Gedanken lesen. »Du bist ein paar Jahre
im Gefängnis gewesen, habe ich
gehört?«    
    Kjartan zuckte zusammen.
Natürlich hatte sich das auf der Insel herumgesprochen, aber
bis jetzt hatte es ihm gegenüber noch niemand
erwähnt.
    »Ja, das ist richtig«,
sagte er.
    »Das muss schlimm für dich
gewesen sein«, sagte Kolk. »Auch wenn ich nicht weit
herumgekommen bin, ich hab doch zumindest immer über mich
selbst bestimmen können. Hab meine Arbeit verrichtet, wenn es
mir passte, hab nach Belieben gegessen und geschlafen und hab mir
einen gekümmelt, wenn es sich so traf. Ich könnte mir
vorstellen, dass das Leben im Gefängnis miserabel und
tödlich langweilig ist.«
    Kjartan nickte nur
zustimmend.
    »Und ich durfte die Natur
genießen und das, was sie gibt«, fuhr Kolk
fort.
    Kjartan antwortete: »Für
mich weckt die Umgebung hier nur Erinnerungen an das
Gefängnis. Das liegt ja auch am Meer, und mich haben da die
gleichen Vögel geweckt wie hier. Ich bin noch nicht über
diese Erfahrung hinweggekommen.«
    Kormákur Kolk sagte nichts,
deswegen fuhr Kjartan fort: »Aber hast du es nie vermisst,
andere Orte zu sehen als diese kleine Insel und das, was man von
diesem Hügel aus erblickt?«
    »Nein, mein Junge, das habe ich
nicht, aber wahrscheinlich habe ich mit meinem Sehen sehr viel mehr
gesehen als andere, die ihr ganzes Leben lang in der Weltgeschichte
herumstromern. Ich habe Gegenden und Länder gesehen, die
andere sich nicht mal vorstellen können. Und vielleicht habe
ich gerade deswegen hier tiefere Wurzeln im Boden geschlagen als
das Wollgras, das beim geringsten Hauch davonfliegt. Die Eiche
beklagt sich nie, dass sie nicht vom Fleck
kommt.«
    »Wirst du den Ärzten in
Reykjavík sagen, dass du Elfen und verborgene Wesen
siehst?«, fragte Kjartan.
    »Nur, wenn sie danach fragen.
Es wird sich herausstellen, ob ich da in der Hauptstadt irgendwas
sehe«, antwortete Kolk.
    »Siehst du jetzt irgendwelche
Wesen?«
    »Ja, ich verabschiede mich
jetzt von diesen meinen Freunden.«
    »Wo sind sie
denn?«
    »Hier direkt beim Hügel,
und dann da unten in dem Stein am Ufer. Und ab und zu kommen sie
hierher.«
    Kjartan versuchte, sich diesen
Anblick vorzustellen.
    »Das muss Spaß machen, so
etwas beobachten zu können«, sagte er.
    »Ja, das ist so, als wenn man
die neugeborenen Lämmer betrachtet, die im Frühjahr
herumtollen«, sagte Kormákur Kolk.
»Möchtest du sie auch sehen?«, fragte er
dann.
    »Ja, das kann ich nicht
leugnen«, antwortete Kjartan.
    Kolk sprach jetzt leise. »Ich
habe manchmal Leuten geholfen, etwas zu sehen, wenn dieser Wunsch
aufrichtig war.«
    Kjartan schaute ihn ungläubig
an. »Wie denn das?«
    »Knie dich hier neben mir hin
und steck deinen Kopf in meine Achselhöhle. Dann sehen wir,
was
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