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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman
Autoren: Maja Ilisch
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wieder zu fassen, riss mich los, stieß das Mädchen von mir und stürmte aus dem Zimmer.
    Ich dachte erst, dass es mein eigenes Reich war, zu dem ich rannte – der Raum, in dem ich seit meinem endgültigen Erwachen lebte und der davor der unseligen Blanche gehört hatte –, aber als ich die Tür hinter mir zuzog und mich mit schwirrendem Kopf und rasendem Herzen umblickte, erkannte ich, dass ich stattdessen in das Zimmer des Mädchens gelaufen war. Ich wusste nicht, was schlimmer war: der Gedanke, dass ich in diesem erbärmlichen Bett geschlafen hatte, auf der dünnen Matratze unter der fadenscheinigen Decke, oder doch das Gefühl, nach langer Zeit wieder nach Hause gekommen zu sein, das mich bei seinem Anblick überkam. Mit dem Rücken lehnte ich mich gegen die Tür, nicht nur, um wieder zu Atem zu kommen, sondern vor allem, damit, sollte man mir gefolgt sein, niemand hereinkommen konnte.
    Aber ich konnte und wollte nicht dort stehen bleiben wie ein Flüchtling, eine Gehetzte, die nichts Besseres zu tun hat, als sich zu verkriechen. Ja, ich rannte davon, doch es war vor keinem Menschen aus diesem Haus, noch nicht einmal vor Lucy, sondern vor dem, was ich in mir trug, was lebte und sich rührte und sich nicht damit abfinden wollte, dass es vergessen und vergangen war und keinen anderen Zweck mehr erfüllte, als meinen Körper lebendig sein zu lassen. Mit kleinen Schritten trat ich an das Fenster und blickte durch die staubtrüben Scheiben hinunter auf Abend und Garten. Das Mädchen hätte ruhig einmal die Fenster putzen können …
    Es war ein ungewohnter Kraftakt, das Fenster selbst aufzuschieben, zu sehr war ich schon daran gewöhnt, eine Dienerin kommen zu lassen, wenn es ein Fenster zu öffnen gab, ein Licht zu entzünden, eine Tür zu schließen. Niemand konnte erwarten, dass eine Fee so etwas alleine tat, aber in diesem Moment gab ich darauf nichts. Ich wollte nicht die stickige, abgestandene Luft im Zimmer atmen müssen, die noch so sehr nach Mensch roch, dass mir davon schwindelig wurde. Dass es mein eigener Geruch war und dass er so warm war und vertraut, dass ich mich darin sofort wiederfand, wo ich mich noch nicht einmal suchen wollte. Es dämmerte draußen, und der Abend roch ein letztes Mal nach allen Blumen des Jahres, ein letztes Lebwohl für Violet, und so würden auch die Veilchen das Erste sein, was welken musste.
    Ich dachte nicht lange nach, als ich auf das Fensterbrett kletterte und meine Beine baumeln ließ, um Freiheit zu spüren, wo ich meine eigene Gefangene war. Aber dann begriff ich, dass es nicht weit genug ging. Unter mir lag das Dach des Anbaus; hätte ich durch die Ziegel hindurchschauen können, ich hätte direkt in den Schein des Feenfeuers geblickt, es war nur einen Steinwurf weit entfernt und doch in seiner ganz eigenen Welt. Doch es hatte nichts mit dem Feuer zu tun, als ich meine Schuhe auszog und sie fortwarf, erst den einen, dann den anderen, die Strümpfe hinterher, und mich hinunterließ auf das Dach unter mir. Einen Augenblick lang hing ich zwischen dem Himmel und der Welt, meine Hände noch am Fensterrahmen, meine Beine in der Luft, und begriff, dass es weiter nach unten ging, als ich vielleicht gedacht hatte. Ich konnte zwar auf dem Dachfirst landen, aber danach würde ich nicht mehr wieder an das Fenster kommen.
    Ich lachte traurig und ließ los. Und wenn ich mir die Beine brach, es war egal. So oder so war mein Körper nicht komplett. Meine Flügel hatte ich verloren, als ich das Feenreich verließ, um unter Menschen zu leben, und wie gut hätte ich sie in diesem Augenblick brauchen können! Etwas in mir erinnerte sich an damals, an das Gefühl zu schweben auf der einen Seite, aber auch daran, dass ich es freiwillig aufgegeben hatte, eingetauscht für etwas, das mir in dem Augenblick als der bessere Tausch erschienen war. Die Entscheidung, mein Land zu verlassen – das war meine eigene gewesen. Ich war nicht verbannt worden, ich war immer frei, und ich wollte unter Menschen sein, weil ich es liebte. Weil ich die Menschen liebte, doch sie liebten mich nicht mehr …
    Ich landete unsanft, aber immerhin auf meinen Füßen, und auf dem Dach: Ich hätte hinunterfallen können, und dass ich es nicht tat, war nicht mein Verdienst. Meine Füße waren Menschenfüße, und sie wussten, was sie taten. Als Fee verstand ich vielleicht, wie ich mit Flügeln durch die Luft gleiten konnte, aber als Mensch konnte ich über den Dachfirst laufen mit der Geschicklichkeit einer Katze, bis
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