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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman
Autoren: Maja Ilisch
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zum äußersten Giebel und nicht weiter. Es war keine Freude darin und kein Triumph; ich erinnerte mich, wie glücklich es das Mädchen immer gemacht hatte, aber ich fühlte nichts davon, es war nur eine Fortsetzung meiner Flucht bis zu einem Punkt, an dem es nicht mehr weiterging. Jetzt konnte ich nur noch springen, in einen Abgrund, ins Vergessen, mit ausgebreiteten Armen, und hoffen, dass ich dort, wo ich dann hinkam, wusste, wer ich war und zu wem ich gehörte. Aber ich sprang nicht. Ich blieb sitzen, wo ich war, auf dem Dachfirst, schlang die Arme um den Körper und schloss die Augen. Ich wollte nicht springen. Ich wollte nur einen klaren Kopf bekommen, und wenn ich wieder ich selbst war, meine Flügel ausbreiten und nach Hause fliegen …
    Aber es half nichts, ich konnte diese Stimme in mir nicht zum Schweigen bringen, und ich wurde dieses Bild nicht los, so fest ich meine Lider auch zusammenkneifen mochte, von blitzenden blauen Augen, bei denen Sonne und Herz darum wetteiferten, wer von ihnen zuerst aufgehen sollte, von einem warmen Lächeln und einer Hand, die meine suchte. Warum brauchte das Mädchen so lange, um zu erkennen, wen es liebte und wen es die ganze Zeit über geliebt hatte? Warum musste es erst durch meine Augen sehen, um es zu begreifen? Jetzt war es zu spät. Ich war eine Fee, ich wollte geliebt werden und mir schmeicheln lassen, aber es war nicht das Gleiche, wie selbst zu lieben – warum also fühlte ich jetzt, in meinem Herzen, wie ein Mensch? Was hatte die Scheuermagd angerichtet, dass dieses Mädchen mich plötzlich in seiner Gewalt hatte? Die Antwort war einfach. Weil dieses Mädchen ich war.
    »Florence!« Ich blickte auf, als ich meinen Namen hörte, und hätte es nicht getan bei dem, den Lucy noch hinterherrief: »Rose!« Sie stand an dem offenen Fenster, aus dem ich geklettert war, und schaute zu mir hinüber. Ich sah schnell wieder weg, wandte ihr meinen Rücken zu. Wenn sie jetzt meine verweinten Augen sah, würde sie noch alle Hochachtung vor mir verlieren, und ich erst recht …
    »Warte, rühr dich nicht!«, rief Lucy. »Ich komme zu dir!«
    »Nein!«, versuchte ich es noch, obwohl alles in mir ja rufen wollte, »bleib weg, komm nicht näher« – aber da war das Gesicht vom Fenster schon wieder verschwunden. Ich lächelte ein wenig bei der Vorstellung. Wie dumm wäre es von Lucy gewesen, es mir nachzutun und auch noch aus dem Fenster zu springen! Sie mochte vielleicht so leicht sein wie ein Pusteblumensamen, aber sie verstand nichts vom Balancieren, und wenn sie sich jetzt Arme und Beine gebrochen hätte bei dem Versuch, die, die nicht gerettet werden wollte, zu retten, wem wäre damit geholfen gewesen?
    Erst war ich glücklich, dass sie mir gefolgt war, dass sie nach mir gesehen hatte, dass ich ihr nicht gleichgültig war – und dass, was auch immer Violet mit ihr angestellt haben mochte, sie sich jetzt wieder an mich erinnerte … Aber warum war sie so schnell wieder davongelaufen, warum war sie nicht zu mir gekommen, war ich ihr nicht einmal das bisschen Balancieren wert? Da, es war geschehen! Ich blickte in die Tiefe, und mir wurde schwindelig. Vielleicht, wenn die Nacht kam und ihre Schwärze mitbrachte, würde mir dieser Abgrund nichts mehr ausmachen, aber für den Moment war es besser, in den Himmel zu schauen und zu fühlen, wie die Zeit vorüberzog.
    Hier oben war ich in Sicherheit, ich konnte sitzen und warten, bis es vorüberging – aber es ging nicht vorüber. Ich hatte mich noch nie so zerrissen gefühlt wie in dem Moment, wo meine Feennatur und meine Menschenseele miteinander darum rangen, wem ich gehören sollte, und noch nie so einsam. Dass sie mich beide für sich begehrten, schmeichelte mir, aber was war mit mir? Warum fragten sie beide nicht mich, wer ich sein wollte? Vielleicht, weil sie wussten, dass ich keine Antwort für sie hatte? Wenn ich jetzt hinuntersprang, als wer würde ich landen?
    Sitzen zu bleiben war keine Lösung. Vorsichtig richtete ich mich auf, fühlte, wie der Wind mein Kleid blähte und mir an den nackten Beinen leckte, spürte die rauhe Oberfläche der Dachziegel unter meinen Füßen, und so fern mir in diesem Augenblick auch der Boden scheinen mochte, der Himmel war noch viel, viel ferner. Ich wollte nicht springen, es war keine Antwort und löste keine Probleme, aber vielleicht reichte die Drohung aus, um beide Stimmen in mir endlich zum Schweigen zu bringen?
    Ich erfuhr es nicht. Im gleichen Moment hörte ich unten Stimmen, Rufen,
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