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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman
Autoren: Maja Ilisch
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das Geräusch, wie etwas über den Boden schleifte, und dann, während ich noch versuchte, vom Dachfirst aus zu erkennen, was unter mir vorging, erschien Lucys Kopf über der Regenrinne. Die Arme folgten, und schließlich zog sich das ganze Mädchen auf die Dachziegel, dass mir angst und bang wurde, sie könne hinunterstürzen. Die Angst machte nicht, dass Mensch und Fee in mir verschwanden, aber sie machte, dass beide mit einer Stimme sprachen. »Lucy!«, rief ich. »Pass auf!«
    Lucy atmete schwer durch und robbte bis zum Dachfirst. Ich streckte mich ihr entgegen und war froh, ihre Hände zu fassen zu bekommen, aber sie lachte nur. »Ich habe eine Leiter mitgebracht«, sagte sie. »Damit du wieder runterkommen kannst.« Sie hielt sich mit ihren Augen an meinem Gesicht fest, sichtbar bemüht, nicht hinunterzuschauen, und ich hatte endlich einen Grund, meine Arme um sie zu legen und sie festzuhalten. Es war mir egal, ob unten der Gärtner stand, oder wer auch immer Lucy mit der Leiter geholfen hatte, und uns sehen konnte. Dieser Moment gehörte nur uns beiden, und wer auch immer ich gerade war, ich war glücklich.
    »Danke«, sagte ich. Eigentlich wollte ich weitermachen mit: » Aber ich hätte schon so heile hinuntergefunden « , doch stattdessen sagte ich nur: »Für alles.«
    Lucy nickte an meiner Schulter. »Danke, dass du mich nicht weggeschickt hast.«
    Ich stutzte kurz. Ging es ihr nur darum, dass sie nicht in Schande zu ihrer Familie zurückgeschickt wurde? Aber dann sah ich ihre Augen. Es ging ihr nicht um ihre Anstellung. Es ging ihr um mich. Um ihre Freundin. Oder doch um mehr? Ich fragte nicht. Ich hielt sie nur in meinen Armen. »Ich habe dich so vermisst«, sagte ich endlich.
    »Ich dich auch«, flüsterte Lucy. Sie klang so schüchtern, so zerbrechlich, und ich fragte mich, wie meine Stimme gerade in ihren Ohren klingen mochte. »Ich bin so froh, dass du wieder da bist.«
    »Ich …«, fing ich an und rang um Wörter. »Ich bin jetzt eine andere«, sagte ich endlich. Ich fühlte mich zittern.
    »Für mich nicht«, antwortete Lucy. »Du bist immer noch du, und ich bin immer noch ich.«
    Ich hätte ihr den Unterschied erklären können, dass ich kein Mensch mehr war, sondern eine Fee, aber ich tat es nicht, weil ich spürte, es war ihr egal. Und wenn ich mich vor ihren Augen in einen Bergtroll verwandelt hätte oder sie sich in eine Blume, es hätte keinen Unterschied gemacht – nicht für sie und auch nicht für mich. Ob sie nun Lucy hieß oder Janet, ob ich Florence genannt wurde oder Rose, es änderte nichts daran, wer wir waren, tief in uns, und dass ich fühlte, wie ihr Herz an meiner Brust schlug und mein Herz im gleichen Takt.
    »Wollen wir hinuntersteigen?«, fragte ich leise. Ich hätte noch stundenlang so sitzen bleiben mögen und den Frieden genießen, der plötzlich in mir war, aber ich spürte Lucy zittern und wusste, dass es nicht von der frischen Luft kam, sondern der ungewohnten Höhe.
    Sie nickte, aber sie ließ meine Hand nicht mehr los, bis wir an der Leiter waren. Ich stieg zuerst hinunter, damit ich sie auffangen konnte, sollte sie straucheln, und dann standen wir unten. Ich hatte keinen Grund mehr, sie in meinem Arm zu halten, als den, dass ich sie liebte, und so hielt ich sie, als dürfe die Nacht kein Ende nehmen. Ich stand da, fühlte die knochigen, schwieligen Hände der Scheuermagd in meinen zarten Fingern und nahm doch nichts wahr als ihre wundervolle Wärme.
    Es lag ein eigener Zauber darin, so viel mächtiger als die Magie, die ich an diesem Tag gewirkt hatte, als alle Liebe und Loyalität, die ich dem Butler oder der Köchin aufgezwungen haben mochte. Hier stand ein Mensch, der mich liebhatte, Rose oder Florence oder beide, ganz ohne Zauber, ganz ohne Bedingungen oder Eigennutz, einfach von sich aus, weil sie fand, dass ich, ausgerechnet ich, von allen Leuten, liebenswert war. Wir lagen uns in den Armen, und Tränen liefen über mein Gesicht. Ich roch Lucys verschwitztes Haar, ich roch die Küche, Seifenlauge, ich roch ihre Menschlichkeit, und ich hatte noch nie so etwas Schönes gerochen oder so etwas Schönes gefühlt wie ihren Körper, den ich festhielt und nicht mehr loslassen wollte. Bilder brachen über mich herein, Dinge, die ich für immer verloren geglaubt hatte. Träume, Wünsche, Ängste, Ziele …
    Violet hatte recht gehabt. Ich war immer noch ein Wechselbalg, ich würde immer eines sein, und ich war glücklich darüber, so glücklich. Es konnte mir egal sein,
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