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Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa

Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa

Titel: Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa
Autoren: Hans Mommsen
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Phobien, die in der NS-Propaganda zusammenflossen, stellte die Judenfeindschaft ein unentbehrliches Ingredienz der NS-Weltanschauung dar.
    Für die sich stufenhaft vollziehende Eskalation der Ausschaltung der Juden aus der deutschen Gesellschaft bis hin zur »Endlösung der Judenfrage« nach 1933 stellte der sich zunehmend verfestigende Judenhass einen bedingenden, aber nicht zureichenden Faktor dar. Desgleichen entsprang die Judenverfolgung keinem in sich konsistenten »Masterplan«. Zwar verfestigte sich in der NS-Führungsschicht die Erwartung, den jüdischen Bevölkerungsteil zunächst aus Deutschland, schließlich aus dem besetzten Teil Europas zu vertreiben. Aber es gab vor dem Frühjahr 1941 keine Strategien, um diese Vision zu realisieren. Erst der vom Auswärtigen Amt, dann dem RSHA aufgegriffene Madagaskar-Plan, der alles andere als neu war, gab der Vorstellung, die »Judenfrage« im Wege einer systematischen Umsiedlung lösen zu können, neue Nahrung. Es überrascht, wie viel Energie die Planer im RSHA auf dieses von vornherein fragwürdige Konzept verwandten.
    Tatsächlich hat es zu keinem Zeitpunkt ein in sich konsistentes Konzept zur »Endlösung der Judenfrage«, sondern nur rivalisierende Teilvorhaben gegeben, die, wie Götz Aly einleuchtend argumentiert hat, sämtlich in eine Sackgasse führten. 2 Er hat nachdrücklich betont, dass die »Judenfrage« im Zusammenhang mit dem Generalplan Ost, zugleich den Rückwirkungen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts und der darin vereinbarten Rücksiedlung der volksdeutschen Minderheiten aktualisiert wurde. Zuvor gab es keine Alternative zu dem Kalkül, die in Deutschland lebenden Juden zur Auswanderung zu zwingen, aber gleichzeitig wurden deren Existenzgrundlagen systematisch ausgehöhlt und schließlich zerstört. Dabei konkurrierten spontane Aktionen, wie sie für die »Reichskristallnacht« charakteristisch waren, mit einer den jüdischen Lebensraum zunehmend einengenden Gesetzgebung, die mit den Nürnberger Gesetzen ihren Ausgang nahm.
    Den entscheidenden Wendepunkt in der Radikalisierung der »Judenverfolgung« stellte der Angriff auf die Sowjetunion dar. Die Hybris der Planer des RSHA, nach der für den Oktober 1941 erwarteten Niederlage Russlands ein gigantisches Ostsiedlungsprojekt vorzubereiten, an dessen Ende nicht nur die Liquidierung von 31 Millionen Russen, sondern auch der europäischen Juden stand, kam damit zum Durchbruch. Hitlers Entschluss, den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt mit der Umsiedlung der volksdeutschen Minderheiten in der Sowjetunion und den baltischen Staaten zu verbinden, wurde zum Ausgangspunkt einer umfassenden völkischen Neuordnung. Sie traf primär die polnische Bevölkerung im Warthegau, aber zugleich die dort lebenden Juden, die deutschen Siedlern Platz machen sollten. Im Zusammenhang damit scheiterten die wiederholt betriebenen Pläne, ein Judenreservat, so in Nisko und danach in Lublin, zu errichten. An diese Stelle traten die von Heinrich Himmler als Umsiedlungskommissar betriebene Errichtung von Vernichtungslagern und die systematische Liquidierung der aus den übrigen europäischen Ländern deportierten Juden.
    Es besteht Einigkeit in der Forschung, dass es einen umfassenden Befehl zur Durchführung der totalen Liquidierung nicht gegeben hat und dass Hitler offenbar zögerte, diesen Schritt zu tun. Seine Stellungnahmen betrafen stets nur Teilschritte und ließen das Fenster für die Fiktion einer künftigen Absiedlung der Juden im »Ostraum« offen. Gleichwohl setzte sich in der NS-Führungsriege die Vorstellung durch, dass die Judenvernichtung und nicht die bevorstehende Zerschlagung der Sowjetunion das eigentliche Kriegsziel darstelle. Aus dieser Perspektive, die einen grotesken Realitätsverlust kennzeichnete, sollte die Ausrottung des Judentums dem Bolschewismus endgültig seine Grundlage entziehen sowie Großbritannien zum Einlenken zwingen, sich den Achsenmächten anzuschließen.
    Es fällt schwer, die sich in den SS-Stäben unter Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich durchsetzende fanatisch verfochtene Vorstellung ernst zunehmen, dass es möglich sei, nicht nur das europäische, sondern das Weltjudentum physisch auszulöschen. Das Denken der NS-Führung war stets geneigt, sich utopischen Visionen zu verschreiben. Im Zusammenhang mit den hypertrophen Plänen einer Zerschlagung der Sowjetunion und schimärischen Siedlungsplänen stellte sich bei den SS-Führungsstäben und der NS-Führung selbst ein
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