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Das Nest

Titel: Das Nest
Autoren: Val McDermid
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Lächeln im Gesicht. »Du gibst nie Ruhe, was, Mädel?«
    Zehn Stunden später brauste Lindsay wieder auf der Landstraße Richtung Süden. Jane, Deborah und Cara waren in dem kleinen Häuschen bequem untergebracht und mit allem versorgt, was für Mrs. Gordon unter den Begriff ›Allernotwendigstes‹ fiel – Brot, Butter, Milch, Eier, Speck, Fisch, Zwiebeln, Kartoffeln und Tee. Am kommenden Montag würde Mrs. Gordon mit Jane zum Sozialamt gehen. Wenn Jane behauptete, Miete zahlen zu müssen, blieb ihnen sicher genug zum Leben. Es bestand also keine Notwendigkeit, irgendwelchen Leuten Deborahs Aufenthaltsort mitzuteilen. Jane hielt Lindsays Vorsichtsmaßnahmen zwar für übertrieben, aber sie war hart geblieben.
    Lindsay verbrachte die Nacht weniger angenehm als die drei Frauen auf der Flucht. Ihre Augen brannten und waren voller Sand, ihr Körper schmerzte von der altersschwachen Federung des Busses. Als sie nicht einmal die volle Lautstärke des Radios mehr wach halten konnte, gab sie es auf. Sie fuhr auf einen Parkplatz neben der Autobahn, wo sie fünf Stunden tief und fest schlief, bevor sie sich wieder auf den Weg nach London machte.
    Irgendwo in der Gegend von Birmingham fiel ihr auf, daß sie überhaupt kein Bedürfnis verspürt hatte, bei Deborah in Invercross zu bleiben. Diese Entdeckung zwang sie, sich mit etwas auseinanderzusetzen, das durch die traumatischen Ereignisse der vergangenen Tage leichter zu verdrängen gewesen war. Es wurde Zeit, daß sie über Cordelia und sich selbst nachdachte. Weshalb dieses unwiderstehliche Bedürfnis, mit Deborah zu schlafen? Wollte sie ihre Beziehung zu Cordelia im Unterbewußtsein beenden, und hatte sie Deborah nur als Werkzeug benutzt? Bis zu ihrer Entführung durch die Sicherheitsleute waren es Lindsays eigene Gefühle gewesen, die sie verängstigt und verwirrt hatten.
    Fest stand, daß Cordelia ihr trotz der Probleme, die es zwischen ihnen gab, zu Hilfe gekommen war. Beim Weiterfahren wurde es für Lindsay immer eindeutiger, daß die Erleichterung, die sie bei Cordelias Anblick vor der Geheimdienstzentrale empfunden hatte, nicht nur auf Dankbarkeit beruhte. Sie fand keine Entschuldigung für ihr eigenes verletzendes Verhalten, und wenn sie den Bruch zwischen ihnen heilen wollte, mußte sie rasch handeln. Bei diesem Gedanken erkannte Lindsay plötzlich, daß es in der Sache kein ›Wenn‹ gab. Sie wußte, sie wollte es wieder probieren mit Cordelia. Voller guter Vorsätze parkte sie kurz vor mittag den Bus vor dem Haus und rannte hinein. Die Wohnung war leer.
    Steif und erschöpft und fast gänzlich ohne Zeitgefühl ließ Lindsay sich ein duftendes Schaumbad ein, drehte Monteverdis Vesper 1610 auf volle Lautstärke und versank eine halbe Stunde im warmen Wasser. Dann nahm sie in Puschen und Bademantel am Computer Platz. Jetzt, wo Deborah außer Gefahr war, hatte sie ihr Versprechen erfüllt. Und eines war ihr klar geworden: Unter den Harriet Barbers dieser Welt existierte weniger Ehrgefühl als unter Dieben oder Journalisten. Die Zusage, die sie ihr gegeben hatten, sie allein fahren zu lassen, war nicht eingehalten worden. Sie hatten im Gegenteil alles versucht, ihr nachzuspionieren. Das hieß, es gab nur eine einzige wirkliche Sicherheit, dieses Schlamassel zu beenden. Also setzte sie sich hin, um die ganze Geschichte um den Mord an Rupert Crabtree zu Papier zu bringen. Und ließ nichts aus.
    Kaum hatte sie den Text ausgedruckt, hörte sie die Eingangstür zuschlagen. Von der Musik überrascht rief Cordelia überflüssigerweise: »Ich bin wieder da.« Mit vor Kälte rot gefärbten Wangen blieb sie in der Tür stehen. »Willkommen zu Haus«, sagte sie. Lindsay nahm den Stapel Papier vom Schreibtisch und hielt ihn ihr entgegen.
    »Ich hab’ dir eine Erklärung versprochen«, fing sie an. »Da ist sie. Die unzensierte Version. Vielleicht geht’s schneller, wenn du’s liest, als wenn ich’s dir erzähle.«
    Cordelia nahm die Blätter an sich. »Ich hab’ dich vermißt«, bemerkte sie.
    »Ich weiß«, antwortete Lindsay. »Und ich dich erst, dauernd. Ich bin so ungern allein. Ich laß’ mich dann immer von den Ereignissen überrollen, wenn du verstehst, was ich meine.«
    Cordelia setzte ein ironisches Grinsen auf. »Die Erklärung ist neu, die muß ich mir merken.« Keine sagte ein Wort, als sie einander schweigend und vorsichtig umarmten. Cordelia löste sich schließlich und sagte: »Laß mich das zuerst lesen. Dann können wir miteinander reden.
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