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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus
Autoren: Eric Berg
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der Möglichkeit konfrontiert, dass sein Vater seine Mutter getötet hatte. Trotz der vielen Jahre in diesem Beruf, trotz der unzähligen Stunden, die ich mit Opfern und Mördern, Zeugen und Polizisten in Gerichtssälen verbracht hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, wie er sich in diesem Augenblick fühlte. Er war damit aufgewachsen, der Wahrheit aus dem Weg zu gehen, und nun sprang sie ihm mitten ins Gesicht. War er stark genug, ihr standzuhalten?
    »Yim?«, fragte ich. »Was war mit dem Handy?«
    Er stand auf und schien unschlüssig, was er nun tun sollte. Am Tresen schenkte er sich einen Schnaps ein, wobei er einiges vergoss, und kippte ihn in einem Zug herunter.
    »Komm wieder zurück, Yim«, sagte ich.
    Plötzlich sah ich ihn nicht mehr. Dafür hörte ich die Küchentür auf- und zugehen.
    Was sollte ich beunruhigender finden? Dass Yim verschwunden war oder dass ich mit Herrn Nan allein am Tisch saß? Mehrmals rief ich Yims Namen, bekam jedoch keine Antwort. Der leere, spärlich beleuchtete Gastraum hatte für mich jegliche nostalgische Ausstrahlung verloren, die ich Tage zuvor noch genossen hatte.
    Ich wollte aufstehen und zu Yim in die Küche gehen.
    Wie eine Schlange schoss Herr Nans Hand hervor und hielt mich am Arm fest. »Bleiben Sie.«
    »Lassen Sie mich los.«
    Ich hörte die Küchentür. Herr Nan gab meinen Arm frei, und ich setzte mich auf meinen Platz zurück.
    Yim kam. In seiner Hand hielt er ein langes japanisches Messer.

30
    September 2010
    Leonie saß auf der Bettkante. Ihr Zimmer war finster. Sie entzündete ein Streichholz nach dem anderen und warf es achtlos weg. Als alle Streichhölzer aufgebraucht waren, zerfetzte sie eine Seite nach der anderen von Timos Roman und riss den Smiley herunter.
    Wie schon einige Stunden zuvor, als sie allein im Haus gewesen war, zog eine schwarze Wand in ihrem Innern auf, ein Sturm von Gedanken und Gefühlen, deren Richtung ständig wechselte. Sie zitterte und war kaum in der Lage, den Kopf gerade und den Rücken aufrecht zu halten. Es gab einen Gleichklang zwischen der vom Sturm beherrschten Außenwelt, dem Sturm in ihrem Innern und einem Körper, der ihr nicht mehr gehorchte, nicht mehr gehörte. Er war zum Eigentum von Angst und Zorn geworden. Zum Eigentum der Übelkeit einer unendlichen Achterbahnfahrt, zum Eigentum von Überdruss. Von Leere. Leere. Sie glaubte zu zerfallen. Es war ein Verfall im Dunkeln und ins Dunkle hinein.
    Sie hörte Stimmen, ein leises Murmeln. Dann wurde es still, sehr still. Der Wind, die Bäume, das Meer – sie schwiegen. Noch immer klapperten die Fenster, bogen sich die Wipfel, wirbelten Zweige durch die Lüfte, schlug Laub ans Fenster, brandeten Wellen auf den Strand, doch das alles in größter Geräuschlosigkeit.
    Leonie griff zum Handy, wählte die Eins.
    »Steffen, ich wollte dir nur sagen, dass du mich ankotzt, dass ihr alle mich ankotzt. Ihr trampelt auf meinen Gefühlen herum, Leute wie du. Immer gebt ihr mir an allem die Schuld, dabei seid ihr selbst oft genug die Versager und Täuscher. Ich ertrage euch fiese Typen nicht länger. Damit ist jetzt Schluss. Ich zeige es euch, ich zeige es euch allen. Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt.«
    Dass diese letzte Nachricht Steffen nie erreichte, weil die Verbindung unterbrochen war, bemerkte Leonie nicht.
    Sie öffnete den Geschenkkarton, den Yim ihr am Nachmittag vorbeigebracht hatte, wobei er eine Entschuldigung im Namen seiner Mutter gemurmelt hatte. Noch immer steckten vier Patronen im Magazin der Pistole.
    Sie trank einen Schluck Orangensaft, der auf dem Nachttisch stand, kippte den Rest auf den Boden, öffnete ihre Zimmertür und trat in den Flur hinaus.

31
    Yim trat, die Spitze der Klinge von sich weg gerichtet, an den Tisch heran, an dem sein Vater und ich saßen.
    »Du …«, sagte er und schluckte. »Du hast meine Mutter ermordet.«
    »Glaub nicht den Lügen dieser Frau«, flehte Herr Nan.
    »Deinen habe ich viel zu lange geglaubt. Ich habe mein Handy an jenem Abend nicht vergessen. Ich war am Hafen und habe beim Festbinden der Boote geholfen. Ein früherer Klassenkamerad bat mich dann noch um Hilfe, an seinem Haus war etwas zu richten, und ich erinnere mich genau, wie ich mit dem Handy versuchte, dich und Mutter anzurufen. Ich bekam zwar noch Empfang, aber die Leitung zu euch war unterbrochen. Ich machte mir Sorgen. Gegen den Rat meines Freundes ging ich mitten im Sturm zum Haus zurück. Ihr wart nicht da. Ich suchte überall, auch im Schuppen … Eine Weile
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