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Das München-Komplott

Das München-Komplott

Titel: Das München-Komplott
Autoren: Wolfgang Schorlau
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angerufen, und der hatte sofort seine Sekretärin in den Vorlesungssaal im Hegel-Bau geschickt.
    »Komm sofort nach Hause«, sagte Mutter. »Du musst dich von Großmutter verabschieden.«
    Sie war in ihren alten Alfa Spider gestiegen und nach Hause gerast. Die Großmutter lag in ihrem Schlafzimmer, aufgerichtet, ein riesiges Kopfkissen im Rücken. Kerzengerade wie immer.
    »Setz dich«, sagte sie.
    Charlotte setzte sich auf die Bettkante und nahm Großmutters Hand. Das hatte sie schon früher so gemacht, als sie noch ein Kind gewesen war. Sie merkte erst an dem salzigen Geschmack in ihrem Mund, dass sie weinte.
    »Wir haben keine Zeit für Sentimentalitäten«, sagte die Großmutter. »Es geht zu Ende mit mir, und du musst einige Dinge über die Familie erfahren.«
    Ihr Atem rasselte. Offensichtlich hatte sie Schmerzen.
    »Schick mir nachher den Arzt herein. Aber jetzt hör mir gut zu.«
    »Soll ich nicht lieber gleich …«
    »Nein, hör zu.«
    Sie rang einen Augenblick um Luft.
    »Dein Großvater«, sagte sie dann leise, »dein Großvater war kein Held. Er war ein Feigling.«
    Charlotte konnte die Schmerzen fast selbst spüren, die ihre Großmutter bei jedem Atemzug quälten.
    »Dort drüben in der Mappe sind zwei Briefe. Einen an Olbricht, in dem er schreibt, dass er nur nach einer gelungenen Aktion auf der Seite der Offiziere des 20. Juli steht, und einen Brief an mich, in dem er dies wiederholt. Er hat seinFähnchen nach dem Winde drehen wollen. Es war ein Fehler. Die Nazis haben ihm das nicht angerechnet. Für sie war er ein unsicherer Kandidat. Und deshalb, nicht weil er gegen sie war, haben sie ihn erschossen.«
    Sie richtete sich auf.
    Sie kämpfte um Luft.
    Sie drückte ihre Hand.
    »Feigheit lohnt sich nicht. Hörst du, Charlotte, das ist es, was unsere Familie in Wahrheit von ihm lernen kann. Feigheit lohnt sich nicht. Und jetzt schick mir den verdammten Arzt rein.«
    Wie betäubt war sie damals in den großen Salon zurückgegangen und hatte sich kaum zu setzen gewagt. Ihr Vater kam zu ihr und legte ihr steif eine Hand auf den Rücken.
    »Hat sie es dir gesagt?«
    Sie nickte.
    Sie erbte die beiden Briefe.
    » Die schwarze Mappe mit den beiden Briefen geht in Charlottes Eigentum über, und ich hoffe, dass meine geliebte Enkelin sie und das Geheimnis bewahren wird.«
    So stand es in Großmutters Testament.

    Sie stürzte sich in das Studium und betäubte sich mit juristischer Dogmatik, Bürgerlichem Gesetzbuch, Handelsgesetzbuch, Zivilprozessordnung, Strafgesetzbuch, Strafprozessordnung, Grundgesetz, mit Verwaltungsgerichtsordnung, mit Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie.
    Sie gab dem Drängen Haralds nach und zog mit ihm zusammen.
    An die Zeit bis zu ihrem Examen erinnerte sie sich heute nur noch dunkel. Sie wusste jedoch, dass sie abends, wennHarald schon schlief, unzählige Male die beiden Briefe ihres Großvaters las, als suche sie nach einer Erklärung.
    Nun war sie die Hüterin des Familiengeheimnisses.

Warum
    Am nächsten Morgen setzte Dengler um acht Uhr die Espressokanne auf die Herdplatte, und als die Caffettiera leise brodelte und ihm damit verkündete, dass der Kaffee durchgelaufen sei, schüttete sich Dengler eine Tasse ein und goss einen Schuss Milch nach. Er nahm einige leere weiße Blätter, seinen Füller, setzte sich an den Küchentisch.
    Noch waren die Unterlagen vom BKA nicht da, und so schlug er erneut den blauen Ordner auf.
    Er rekapitulierte: Das Attentat auf das Münchener Oktoberfest am 26. September 1980 war der schwerste Bombenanschlag in der Geschichte Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. 13 Menschen starben, mehr als 220 Menschen wurden verletzt, zum Teil schwer, einige wurden verstümmelt, andere waren für den Rest ihres Lebens gezeichnet.
    Das waren die Fakten. Merkwürdig daran war unter anderem, dass dieses Massaker trotz seiner Schwere nicht so sehr ins öffentliche Bewusstsein eingegangen war wie andere Attentate, obwohl sich diese nur gegen einzelne Personen gerichtet hatten: die Ermordung Schleyers und Bubacks, die Attentate auf Herrhausen oder Ponto. Über das Münchener Attentat machte der Filmemacher Heinrich Breloer keine mehrteilige Dokumentation. Die Medien riefen diese Bluttat nicht immer wieder ins Gedächtnis, wie sie es mit den Verbrechen der RAF taten.
    Dengler wusste nicht, warum das so war, aber es schienihm doch auffällig zu sein. Das größte Verbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland verschwand fast
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