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Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman

Titel: Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman
Autoren: Diana Gabaldon
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seinem toten, angeheirateten Vetter, und doch - jetzt, wo sein Gesicht vor Wut verzerrt war, die Augen beim Sprechen ein wenig hervorquollen … Grey schloss fest die Augen und beschwor die Vision herauf.
    Ohne sich zu entschuldigen, ließ er Quarry und Lady Lucinda abrupt stehen und trat hastig vor den großen, vergoldeten Spiegel, der im Speisezimmer über einer Anrichte hing.
    Über die Skelettreste eines gerösteten Fasanen gebeugt, starrte er seinen Mund an, der sorgsam die Bewegungen formte, die er auf Robert Geralds Mund gesehen hatte - und jetzt erneut auf Harry Quarrys. Und im Geiste hörte er dabei Robert Geralds mühsames - aber unausgesprochenes - letztes Wort erklingen. »Dashwood.«
    Quarry war ihm gefolgt, die Stirn verwirrt gerunzelt.
    »Was zum Teufel, Grey? Warum zieht ihr vor dem Spiegel Gesichter? Ist Euch nicht gut?«
    »Doch«, sagte Grey, obwohl es ihm in Wirklichkeit alles andere als gut ging. Er starrte sein eigenes Spiegelbild an, als sei es eine grauenvolle Geistererscheinung.
    Ein weiteres Gesicht erschien, und dunkle Augen begegneten den seinen im Spiegel. Die beiden Abbilder ähnelten sich in Größe und Form, beide besaßen eine kultivierte Muskularität und feine Gesichtszüge, die schon mehr als einen Beobachter in der Gesellschaft zu der Bemerkung verleitet hatten, dass sie Zwillinge sein könnten - der eine hell, der andere dunkel.
    »Du kommst doch nach Medmenham, oder?« Die gemurmelten Worte waren warm in seinem Ohr, Georges Körper so dicht bei ihm, dass er den Druck von Hüfte und
Oberschenkel spüren konnte. Everetts Hand berührte leicht die seine. »Es wäre… mein ganz besonderes Begehren.«

TEIL DREI
    DIE ABTEI VON MEDMENHAM,
    West Wycombe
     
    Bis zur dritten Nacht in Medmenham gab es keine ungewöhnlichen Vorkommnisse. Vorher war es - Quarrys im Vorfeld lauthals geäußerten Bedenken zum Trotz - eine Gesellschaft wie viele andere in Lord Johns Erinnerung gewesen, obwohl mehr als üblich über Politik und weniger über die Jagd geredet wurde.
    Trotz der Gespräche und Unternehmungen strahlte das Haus jedoch eine geheimnisvolle Atmosphäre aus. Grey konnte nicht sagen, ob es am Verhalten der Dienstboten lag oder ob es etwas war, das die Gäste nicht sahen, aber spürten, doch es war real; es lag in der Luft der Abtei wie Rauch auf Wasser.
    Das Einzige, was sonst noch seltsam war, war der Mangel an Frauen. Es wurden zwar gut situierte Frauen aus der Gegend um West Wycombe zum Abendessen eingeladen, doch sämtliche Gäste des Hauses waren männlich. Grey kam der Gedanke, dass es dem Erscheinen nach fast eine jener sodomitischen Gesellschaften hätte sein können, die
auf den Londoner Flugblättern so verschrien wurden. Allerdings nur dem Anschein nach, es gab keinerlei Hinweise auf derartiges Verhalten. Selbst George Everett legte keine andere Gefühlsregung als Liebenswürdigkeit an den Tag.
    Nein, dies war nicht die Art von Verhalten, die Sir Francis Dashwood und seiner restaurierten Abtei einen skandalumwobenen Ruf verschafft hatte. Was genau nun tatsächlich hinter dem Geflüster von Verruchtheit steckte, war ihm noch ein Rätsel.
    Eines wusste Grey: Dashwood war nicht Geralds Mörder, zumindest nicht direkt. Diskrete Nachfragen hatten Sir Francis’ Aufenthaltsort ermittelt und gezeigt, dass er sich zum Zeitpunkt der Untat weit von der Forby Street entfernt aufgehalten hatte. Doch es bestand die Möglichkeit, dass die Mörder in seinem Auftrag gehandelt hatten, und Robert Gerald war im Augenblick seines Todes irgendetwas aufgefallen, das ihn dazu bewogen hatte, diese letzte, stumme Anklage zu äußern.
    Bis jetzt gab es nichts, was Grey als Beweis für Schuld oder Lasterhaftigkeit hätte werten können. Doch wenn es irgendwo Beweise gab, dann musste es in Medmenham sein - der säkularisierten Abtei, deren Ruinen Sir Francis restauriert und zur Bühne für seine politischen Ambitionen gemacht hatte.
    Grey war sich allerdings bewusst, dass während der Gespräche und gemeinsamen Unternehmungen ein stiller Prozess der Einschätzung stattfand, das konnte er den Augen und dem Verhalten seiner Begleiter deutlich ansehen. Er wurde beobachtet, seine Eignung geprüft - aber wozu?

    »Was ist es, das Sir Francis von mir will?«, hatte er am zweiten Nachmittag bei einem Spaziergang mit Everett unverblümt gefragt. »Ich habe doch nichts, was einen solchen Mann locken könnte.«
    George lächelte. Er trug sein eigenes Haar, dunkel und glänzend, und die kühle Brise strich ihm
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