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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer
Autoren: Philip Pullman
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Hester knabberte an seinem Kinn. Er schwitzte. Der Schamane saß im Schneidersitz da, doch sein Adlerdæmon war nicht bei ihm, wie Lee fröstelnd bemerkte. Dieser Wald war ein böser Ort, voller Spukgestalten.
    Plötzlich bemerkte er das Licht, das auf den Schamanen fiel, obwohl das Feuer längst aus und der Wald stockdunkel war. Ein entferntes Flackern strich über Baumstämme und die Unterseiten der tropfenden Blätter, und Lee wusste sofort, was es war: Sein Traum war Wirklichkeit geworden, und ein Zeppelinpilot war gegen einen Berg geflogen.
    »Verdammt, Lee, du zitterst ja wie Espenlaub«, brummte Hester und zuckte mit ihren langen Ohren. »Was ist denn los?«
    »Träumst du nicht auch, Hester?«, murmelte er.
    »Du träumst nicht, Lee, du siehst Dinge im Voraus. Wenn ich gewusst hätte, dass du ein Prophet bist, hätte ich dir das schon lange ausgetrieben. Jetzt aber Schluss damit, verstanden?«
    Lee kraulte ihr mit dem Daumen den Kopf, und sie schüttelte die Ohren.
    Übergangslos schwebte er neben dem Dæmon des Schamanen, neben dem Fischadler Sayan Kötör in der Luft. In Gegenwart eines anderen Dæmons zu sein und zugleich ohne den eigenen, verursachte Lee starke Gewissensbisse, aber auch ein eigenartiges Vergnügen. Nebeneinander glitten sie, als ob auch er ein Vogel sei, durch die turbulenten Winde über dem Wald. Um Lee war alles dunkel, nur gelegentlich erfüllt von einem bleichen Schein, wenn der Vollmond kurz durch eine Wolkenspalte leuchtete und die Baumspitzen mit silbernem Licht übergoss.
    Der Adlerdæmon schrie heiser, und von unten antworteten Tausende von Stimmen der verschiedensten Vögel: das Uhu der Eulen, das alarmierte Piepsen kleiner Spatzen und der melodische Gesang der Nachtigall. Sayan Kötör rief sie, und sie kamen alle, die Vögel des Waldes, ob sie auf lautlosen Schwingen gejagt oder auf einem Ast geschlafen hatten, und zu Tausenden stiegen sie flatternd zum stürmischen Himmel empor.
    Lee merkte, wie er mit seiner Vogelnatur freudig dem Ruf des königlichen Adlers folgte, und mit dem Rest seiner Menschennatur empfand er ein merkwürdiges Vergnügen dabei, sich einer starken Macht, die bedingungslos Recht hatte, unterzuordnen. Und er flog und kreiste mit dem mächtigen Schwärm verschiedener Vogelarten, die alle gemeinsam dem magnetischen Willen des Adlers folgten, und erblickte schließlich vor den am Himmel jagenden, silbergeränderten Wolkenmassen die verhassten dunklen Umrisse eines Zeppelins.
    Die Vögel wussten genau, was sie zu tun hatten. Sie schwärmten auf das Luftschiff zu, die schnellsten voraus und allen voran Sayan Kötör, gefolgt von kleinen Zaunkönigen und Finken, dahinschießenden Mauerseglern und lautlosen Eulen – innerhalb einer Minute war das Luftschiff von ihnen bedeckt, suchten tausend Krallen nach Halt auf der geölten Seide und bohrten kleine Löcher hinein.
    Vom Motor hielten sie sich fern, obwohl einige hineingezogen wurden und in den kreisenden Propellern ihr Leben ließen. Die meisten Vögel setzten sich einfach auf die Haut des Zeppelins, und die, die nach ihnen kamen, hielten sich an ihnen fest, bis sie nicht nur die gesamte Gashülle bedeckten, aus der jetzt durch tausend winzige Löcher Wasserstoff strömte, sondern auch die Fenster der Kabine, die Streben und die Seile – auf jedem Quadratzentimeter saßen ein, zwei, drei Vögel und mehr.
    Der Pilot war hilflos. Unter dem Gewicht der Vögel begann das Luftschiff immer tiefer zu sinken, und dann tauchte aus der Nacht plötzlich wieder einer jener grausamen Steil  hänge auf. Die Männer in der Kabine konnten ihn natürlich nicht sehen; sie schwenkten nur wild ihre Gewehre und schössen ungerichtet drauflos.
    Im letzten Moment schrie Sayan Kötör, und mit einem Donnern, in dem sogar der Lärm des Motors unterging, flogen die Vögel auf. Die Männer in der Kabine durchlebten noch einige grauenvolle Sekunden, in denen sie den Berg auf sich zurasen sahen, dann krachte der Zeppelin dagegen und ging in Flammen auf.
    Feuer, Hitze, Flammen … Als Lee wieder aufwachte, war ihm so heiß, als habe er in der Wüstensonne gelegen.
    Draußen war immer noch das endlose Tropfen der nassen Blätter auf das Zeltdach zu hören, aber das Unwetter war vorbei. Blassgraues Licht drang herein, und als Lee sich auf  stützte, sah er Hester, die sich neben ihm die Augen rieb, und dahinter in eine Decke gewickelt den Schamanen, der so tief schlief, dass er hätte tot sein können, hätte nicht Sayan Kötör draußen
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