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Das Lied der Maori

Das Lied der Maori

Titel: Das Lied der Maori
Autoren: Sarah Lark
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sollte dort täglich Unterricht halten. Jack hätte es nichts ausgemacht und Kura ganz sicher nichts geschadet, an den Stunden teilzunehmen. Doch Heather Witherspoon drückte sich darum, so oft sie nur konnte. Die erwachsenen Eingeborenen, sagte sie, machten ihr Angst und deren Kinder könne sie nicht leiden. Wenn sie sich trotzdem dazu herabließ, Unterricht zu erteilen, richtete sie die Unterrichtsinhalte ganz auf das Mädchen Kura aus – was die meisten Kinder im Dorf überforderte und somit langweilte. Heather Witherspoon las zum Beispiel ausschließlich reine Mädchenbücher, vorzugsweise solche, in denen kleine Prinzessinnen geduldig das Schicksal eines Aschenputtels durchlitten, bis sie endlich für all ihre guten Taten belohnt wurden. Den Maori-Mädchen sagte das gar nichts. Es war ihrer Wirklichkeit völlig fremd, und Heather unternahm keine Anstrengungen, es ihnen näherzubringen. Die Maori-Jungen trieb es schier zum Wahnsinn: Duldsame Prinzessinnen interessierten sie nicht. Sie wollten Geschichten über Piraten, Ritter und Abenteurer hören.
    James warf einen raschen Blick in das einstige Empfangszimmer, das Gwyneira nun als Büro diente. Seine Frau war nicht anwesend, deshalb durchquerte er den mit teuren englischen Möbeln eingerichteten Salon, noch immer vor sich hin grummelnd. Konnte diese Miss Witherspoon nicht einmal die »Schatzinsel« vorlesen oder die Geschichten über Robin Hood oder Ritter Lancelot, die Fleurette und Ruben in ihrer Kindheit so entzückt hatten?
    Aus dem früheren Herrenzimmer – nunmehr in eine Art Schul- und Musikzimmer umgewandelt – drang Klaviermusik in den Salon. James schaute auch hier kurz hinein, denn theoretisch war es ja möglich, dass sein Opfer Kura gerade eine Stunde erteilte. Doch das Mädchen saß allein vor ihrem vergötterten Klimperkasten und spielte selbstvergessen Beethoven. Im Grunde hatte James nichts anderes erwartet. Es war typisch für Kura, ihrer Großmutter und ihrer Gouvernante sämtliche Reisevorbereitungen zu überlassen, während sie selbst ihren Vergnügungen nachging. Später beschwerte sie sich dann darüber, dass man nicht die richtigen Kleider eingepackt hatte.
    James ließ die Tür wieder zufallen, ohne das schlanke, schwarzhaarige Mädchen anzusprechen. Er hatte keinen Blick für Kuras auffallende Schönheit, die sonst eigentlich jeder rühmte, der dieses exotisch anmutende Geschöpf zum ersten Mal sah. Besonders seit Kura zur Frau heranreifte, stockte den Betrachtern oft der Atem. James McKenzie sah nach wie vor nur das Kind in ihr – ein verzogenes Kind, dessen Launen seine Familie und die Hausangestellten von Kiward Station oft zur Verzweiflung trieben.
    James stieg die breite Treppe hinauf, die das Obergeschoss mit den Gesellschafts- und Wirtschaftsräumen im unteren Trakt verband, als er aus Kuras Zimmern zornige Stimmen hörte. Gwyneira und Miss Witherspoon. James grinste. Anscheinend war seine Frau ihm zuvorgekommen.
    »Nein, Miss Heather, Kura braucht Sie keineswegs. Sie wird durchaus ein paar Wochen ohne Gesangsstunden auskommen – zumal ich mich ohnehin nicht erinnern kann, Sie als Gesangslehrerin angestellt zu haben. Sie jammern doch sowieso dauernd, dass Sie Kura hier kaum noch etwas beibringen können! Und was die Klavierstunden und die sonstige Bildung angeht ... wenn Kura wirklich ohne das alles, wie Sie sagen, vertrocknet wie eine Blüte in der Wüste, wird meine Freundin Helen einspringen. Helen hat in ihrem Leben mehr Kindern das ABC beigebracht, als Sie sich vorstellen können, und sie spielt seit Jahren in der Kirche die Orgel.«
    James lächelte in sich hinein. Gwyneira verstand sich fabelhaft darauf, Leute abzukanzeln. Er hatte das oft am eigenen Leib erfahren müssen – und war immer hin und her gerissen zwischen Zorn und Bewunderung. Allein schon, wie Gwyn sich bei einer Schimpftirade vor ihm aufzubauen pflegte! Sie war eher klein und sehr schlank, aber ungemein energisch. Wenn sie wütend war, schien sich ihr rotes Haar elektrisch aufzuladen, und ihre aufregend azurblauen Augen sprühten Funken. Nach wie vor sah man ihr auch ihr Alter nicht an. Zwar versuchte sie neuerdings, ihre Locken in einem Knoten zu bändigen, statt sie wie früher einfach im Nacken zusammenzubinden, aber ein paar Strähnen schafften es immer, sich zu befreien. Natürlich hatten die Jahre ein paar Fältchen in ihr Gesicht gegraben. Gwyn hatte nie viel von Sonnenschirmen gehalten, ebenso wenig von Regenschutz – sie setzte ihre Haut seit
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