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Das Lied der alten Steine

Das Lied der alten Steine

Titel: Das Lied der alten Steine
Autoren: Barbara Erskine
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als sie hereinkamen. »Habt ihr es gesehen?«
    »Seit wann hängt es da?« Anna ging neben ihrer Großtante auf die Knie.
    »Ach, meine Liebe, das weiß ich nicht. Dreißig Jahre? Ich weiß nicht mehr, wann wir es dorthin gehängt haben. Es war mir immer unheimlich, deshalb habe ich es einfach eines Tages außer Sichtweite gebracht.«
    »Und warum habe ich es nie zuvor gesehen?«
    »Das hast du sicher. Du hast es nur einfach nicht bemerkt.«
    »Aber verstehst du denn nicht? Wenn ich es gesehen hätte, hätte ich sie wiedererkannt. Ich hätte gewusst, wer sie sind.« Sie hockte auf den Fersen, den Kopf in den Händen.
    Toby setzte sich neben sie. »Anna, unglaublich viele Menschen bringen es fertig, jeden Tag etwas zu sehen und es doch nicht wahrzunehmen«, sagte er behutsam. »Vor allem, wenn es dich nicht interessiert hat. Schließlich hattest du ja keinen Grund, es zu beachten. Es hatte für dich keine Bedeutung, bevor du in Ägypten warst.«
    »Außer ich habe es bemerkt und in meinem Gedächtnis vergraben wie einen verborgenen Albtraum, der dann später wiederkommt. Die Reise nach Ägypten hat die Erinnerung dann unterschwellig zurückgeholt. Wie nennt man das? Verdrängte Erinnerung? Vielleicht habe ich mir alles nur ausgedacht. Die ganze Sache aus meiner Einbildung erschaffen.« Sie sah die beiden anderen voller Hoffnung an.
    Phyllis zuckte mit den Schultern. »Ich habe die frühen Briefe gefunden«, warf sie ruhig ein. Sie hielt ihr einige mit weißem Klebestreifen zusammengehaltene Umschläge hin. »Schau mal nach, ob etwas Interessantes dabei ist.«
    Mit zitternden Händen zog Anna den ersten Brief aus dem Umschlag. Sie las ihn in aller Ruhe durch und gab ihn mit einem Lächeln an Phyllis weiter. »Das sind sehr frühe Briefe. In diesem geht dein Großvater noch zur Schule.«
    Sie machte den nächsten auf und dann noch einen. Langsam wich die Spannung von ihr, während sie in die harmlosen Alltagsprobleme einer viktorianischen Familie eintauchte. Zehn Minuten später stieß sie einen überraschten Ruf aus. »Nein! O
    Gott, hört zu! Dieser Brief ist von 1873. Er ist von John. Das ist Louisas jüngerer Sohn. ›Lieber David. Es geht Mutter wieder nicht gut. Ich habe den Doktor geholt, aber er hat keine Ahnung, was ihr fehlt. Er hat ihr Bettruhe verordnet und uns aufgetragen, dass sie es ruhig und warm haben soll. Auf ihre Bitte hin ging ich ins Studio, um ihr ein Skizzenbuch zu holen. Ich hatte die Hoffnung, dass das Zeichnen sie ruhig im Bett halten würde.
    Stell dir mein Erstaunen vor, als mir dort eine große Schlange entgegenkam! Ich wusste überhaupt nicht, was ich tun sollte. Ich schlug die Tür zu und rief Norton.‹« Sie blickte auf. »Wer war Norton? ›Wir gingen mit aller Vorsicht hinein, fanden aber nichts. Sie muss durchs offene Fenster auf die Straße hinausgekommen sein! Sicher ist sie aus dem Zoologischen Garten entkommen.‹« Anna ließ den Brief sinken und starrte ins Feuer. »Die Schlange ist nach England gekommen«, sagte sie entmutigt. »Sie ist der Flasche gefolgt.«
    »Schreibt er noch mehr?« Toby runzelte die Stirn.
    »›Wir haben Mutter nichts davon erzählt, um sie nicht aufzuregen.‹« Sie ließ ein kurzes Lachen hören. »Wie klug!« Sie blätterte durch weitere Briefe. »Nein, sonst nichts. Diese sind aus Cambridge. Dann die Armee. Das Zuhause wird nicht erwähnt. Nein, warte.« Aufgeregt hielt sie einen anderen Brief hoch. »Das ist Louisas Handschrift.« Ehrfürchtig faltete sie die Blätter auf und bemerkte, dass sie einen Kloß im Hals hatte. Es war, als entdeckte sie eine alte Freundin.
    Ein langes Schweigen folgte, während sie die Seiten überflog.
    Als sie aufschaute, war ihr Gesicht verhärmt und angespannt.
    »Lies ihn.« Sie reichte Toby den Brief. »Lies ihn laut vor.«
    »›Ich habe ein Bild meiner Verfolger gemalt, in der Hoffnung, sie aus meinem Kopf zu vertreiben. Sie suchen auch heute noch meine Träume heim, so viele Jahre nach meiner Reise nach Ägypten.‹ An wen schreibt sie diesen Brief?« Er sah auf.
    »Er ist an Augusta adressiert. Die Forresters lebten damals in Hampshire. Vielleicht ist sie deshalb dorthin gezogen.« Sie fröstelte. Sie starrte ins Feuer und hielt die Knie umklammert.

    »Lies weiter.«
    »›Letzte Nacht träumte ich von Hassan. Wie sehr ich ihn immer noch vermisse. Kein Tag vergeht, ohne dass er nicht irgendwo in meiner Erinnerung auftaucht. Aber ich fürchte seine beiden Begleiter in meinen Gedanken. Werden sie mir denn nie Ruhe
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