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Das Lied der alten Steine

Das Lied der alten Steine

Titel: Das Lied der alten Steine
Autoren: Barbara Erskine
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sein, wenn jemand ihre Sachen auspackte, ihre Kleider ausschüttelte, ihre Unterwäsche und Unterröcke zusammenlegte und verstaute und ihre Haarbürsten und Kämme herauslegte, Ihre Skizzenbücher, ihren kostbaren Aquarellkasten von Winsor & Newton und ihre Pinsel durfte niemand außer ihr selbst anfassen. Sie legte sie auf den kleinen Tisch vor dem elegant spitzbogigen Kabinenfenster mit seinen Lamellenfensterläden.
    Als sie sich umwandte, fiel ihr Blick auf das Abendkleid, das Jane Treece bereits ausgebreitet und für sie zurechtgelegt hatte.
    Wieder musste sie auf den Wunsch verzichten, ihr Korsett und die Unterröcke sowie das förmliche Schwarz der Trauer abzulegen und die herrlich kühlen, weich fließenden Kleider anzuziehen, die ihre Freundin Janey Morris ihr vor vielen Monaten in London genäht hatte. »Ich hatte gedacht, auf so einem kleinen Schiff ginge es weniger förmlich zu«, sagte sie vorsichtig. »Und es ist zwar sehr freundlich von Sir John, daran zu denken, aber als Witwe brauche ich, glaube ich, keine Anstandsdame.«
    »Tatsächlich!« Das Wort enthielt leises Entsetzen, eine gewisse Verachtung und solchen Hochmut, dass Louisa keinen Zweifel mehr hegen konnte, dass sie völlig falsche Erwartungen gehabt hatte.
    »Sir John und Lady Forrester wahren auf der Ibis stets die Form, das kann ich Ihnen versichern, Mrs. Shelley. Wenn Sie das Boot verlassen, um die heidnischen Tempel zu besichtigen, wird es zweifellos schwieriger sein, all diese Annehmlichkeiten beizubehalten. Ich habe deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nicht bereit bin, Sie bei solchen Gelegenheiten zu begleiten, aber hier sorgen Sir Johns Diener Jack und ich für einen reibungslosen Ablauf wie bei Ihnen zu Hause in Belgravia.«
    Louisa biss sich auf die Lippen, um ein sarkastisches Lächeln zu verbergen. Sie versuchte, angemessen zerknirscht auszusehen, und erlaubte der Frau, ihr beim Anlegen des schwarzen Seidenkleids zu helfen und ihr das Haar in weichen Locken um den Kopf unter dem schwarzen Spitzenschleier festzustecken. Wenigstens war es kühler ohne das Gewicht des Nackenknotens, den sie sonst trug. Die Versicherung, dass Jane Treece sie nicht zum Tal der Gräber begleiten würde, hob ihre Laune beträchtlich.
    Der zentrale Salon des Boots war ebenso exotisch wie ihre eigene Kabine, doch der Tisch war mit englischem Silberbesteck und Porzellangeschirr gedeckt. Das Essen war ägyptisch und schmeckte köstlich. Louisa aß mit großem Genuss, während sie den Forresters zu erklären versuchte, warum sie die ägyptische Landschaft malen wollte. Augusta Forrester war aus ihrer Behausung aufgetaucht und sah so elegant und kühl aus, als gäbe sie die Gastgeberin daheim in London. Die zierliche silberhaarige Dame Anfang sechzig mit ihren großen, dunklen Augen hatte sich ihre hübschen Gesichtszüge und ihren Charme erhalten, was sie unmittelbar anziehend machte. Ihre Aufmerksamkeitsspanne war allerdings, wie Louisa bald entdeckte, nur sehr kurz.
    »Als Mr. Shelley starb«, erklärte Louisa beim Essen, »war ich völlig verloren.« Konnte sie ihnen je erklären, wie verloren?
    Ohne ihren geliebten George? Sie hatte dasselbe Fieber bekommen, das ihren Mann umgebracht hatte. Zwar war sie genesen, aber danach war sie zu schwach und energielos, um für ihre beiden robusten und stets lauten Söhne zu sorgen. Sie waren zu Georges Mutter gekommen und Louisa hatte sich schließlich überzeugen lassen, dass ein paar Monate in heißem Klima ihre Gesundheit wiederherstellen würden. Sie und George hatten immer vorgehabt, eines Tages nach Ägypten zu reisen. George hatte sie mit Geschichten von all den Entdeckungen unterhalten, die im Wüstensand gemacht wurden. Er hatte ihr versprochen, dass sie eines Tages zusammen dorthin fahren würden und sie dann die Tempel und Gräber malen könnte. Der eher unkonventionelle Haushalt, den sie geführt hatten, mit seinem Gelächter, seinen Gesprächen und dem ständigen Besucherstrom von Malern, Dichtern und Reisenden, löste sich auf, als die Krankheit zuschlug. Georges Mutter war gekommen, hatte sie beide gepflegt, die Kinder mitgenommen, die Hälfte der Dienstboten entlassen, sie durch ihre eigenen ersetzt und Louisa am Boden zerstört zurückgelassen.
    Louisa blickte von Sir John zu seiner Frau, wobei sie feststellen musste, dass Letztere ihr gar nicht mehr zuhörte, doch die Erwähnung ihres Neffen Edward brachte sie aus ihren Träumereien zurück. Einige Minuten lang richtete sie ihre dunklen Augen
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