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Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Titel: Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
Autoren: Fritz Roth
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mentale und physische Kräfte den eigenen Ansprüchen und äußeren Anforderungen an unsere Leistungsfähigkeit setzen. Wer mit Leiden oder Kontrollverlust konfrontiert wird, steht als Verlierer da. Wir sind gewohnt, alles im Griff zu haben, und uns an Experten zu halten, die alles im Griff zu haben scheinen. Hilflos stehen wir dann vor einer Situation, die wir nicht beherrschen können.
    Der Moment, in dem es gelingt, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren, ist daher auch ein Moment der Befreiung von unendlichen, uneinlösbaren Ansprüchen an Glück, Gelingen, Perfektion und Leidensfreiheit. Eine der wichtigsten Erfahrungen, die wir in der Auseinandersetzung mit dem Tod machen können, ist ein veränderter Blick auf das Leben. Menschen, die in schweren Krisen ihren Mut bewahren und bereit sind, ihren eigenen Vorstellungen zu folgen, bleiben die Handelnden. Sie verfügen über eine Fähigkeit, die ihnen ermöglicht, das Leben mit allen Unvorhersehbarkeiten, mit seiner Endlichkeit und seiner Unplanbarkeit anzunehmen und so Freiheit zu gewinnen: nicht in der Vorstellung ewiger Kontrolle, sondern in der Sicherheit, angesichts auch einer leidvollen Situation die eigene Souveränität zu erhalten.
    Als Robinson Crusoe Schiffbruch erlitt und auf die einsame Insel verschlagen wurde, rettete ihm ein Trick das Leben: Er nahm Stift und Papier, die er aus dem gesunkenen Schiff retten konnte, und machte zwei Listen. Auf die eine schrieb er, was an seiner Situation schlecht war, auf die andere das, worüber er glücklich sein konnte. Schlecht: ich bin auf einer einsamen Insel, ohne Hoffnung, je gerettet zu werden. Gut: Ich bin noch am Leben und nicht ertrunken wie all meine Kameraden. Schlecht: Ich habe keine Kleider, mich zu bedecken. Gut: Ich lebe in einem heißen Landstrich, wo ich kaum Kleider tragen müsste, selbst wenn ich welche hätte. Und so weiter. Dann beschloss er, die unabänderlichen Dinge zu akzeptieren, bewusst los zu lassen. »Von nun an begann ich zu folgern, dass es mir möglich ist, mich in meiner verlassenen Lage glücklicher zu fühlen, als es vermutlich in irgendeinem anderen Zustand der Erde je der Fall gewesen wäre.« Robinson Crusoe zeichnet aus, dass er in einer objektiv ausweglosen Situation seinen Verlust anerkannte und so der Handelnde blieb.
    In dem Bild von Trauer, das viele haben, ist die eigene Perspektive ausschließlich negativ. Doch Trauer ist eine Kraft, und Betroffene sind oft über sich selbst erstaunt, wenn sie in der Zeit nach dem Verlust Kräfte in sich entdecken, von denen sie nichts geahnt hatten: Energie, Kreativität, Lebenswille, Durchsetzungsfähigkeit. Diese Stärke scheint dem zu widersprechen, was von Trauernden erwartet wird; doch sie ist die notwendige, dem Leben zugewandte Seite, ohne die wir schwere Krisen und Verluste nicht überwinden könnten.
    Trauer ist eine Form der Liebe, eine intensive Hinwendung zu einem anderen Menschen. Wir trauern nur intensiv um Menschen, die uns etwas bedeutet haben, zu denen wir eine Bindung eingegangen sind. Und wie Liebe ist Trauer keine passive, sondern eine aktive Haltung, ein Tun. Wir brauchen eine Sterbe- und Trauerkultur, die Trauernde nicht isoliert, sondern integriert und so auch den Umgang mit Verlusterfahrungen neu lernt. Früher war Trauer eine Sache der Gemeinschaft. Unsere Gesellschaft hat bestimmte Vorstellungen davon, wie Trauer auszusehen hat, wie mit Verlusterfahrungen umzugehen ist. Aber Trauer lässt sich nicht in Normen pressen. Jeder Mensch erlebt sie auf seine ganz eigene Art und in seiner eigenen Zeitstruktur. Trauer benötigt den Freiraum für persönliches Handeln, und sie braucht eine Gemeinschaft, die dies respektiert und fördert. Durch den Tod eines vertrauten Menschen verändert sich für Trauernde vieles in den äußeren Lebensumständen, aber vor allem anderen verändern Trauernde sich selbst. Trauer ist eine Energie, die Veränderungen schafft. Sie stellt radikal in Frage, was vorher gegolten hat, sie verändert Einstellungen und Gefühle zu anderen Menschen, die eigene Ansprüche und Lebenspläne.
    Heute wagen es viele nicht, ihre Gefühle offen auszudrücken. Sie ziehen sich zurück, übersetzen ihre Unsicherheit in Distanz: Dem einen Verlust folgen oft weitere, beispielsweise der Verlust von Kontakt mit Kollegen, Nachbarn oder Freunden. Dabei verdient die Bewältigung des Leids, das der Tod eines Angehörigen verursacht, alle Unterstützung, allen Respekt für den trauernden Menschen. Dieser Respekt
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