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Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Christiane Fux
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registrierte unwillkürlich das künstlerische Potenzial des alten Möbelstücks und schämte sich sogleich. »Ich hab mich ja schon gewundert, wo Anna steckt – aber tot?« Gedankenverloren fuhr er mit der Hand über die Tischkante, hin und zurück, hin und zurück, als wollte er den Kontakt zur Realität nicht verlieren.
    »Mensch, Anna war doch noch bestens in Schuss! Ich dachte immer, die wird hundert.«
    »Unterkühlung«, sagte Theo, »das kann bei alten Menschen schnell gehen.«
    »Sie ist erfroren?« Fatih blinzelte irritiert.
    »Eine Spaziergängerin hat sie gefunden«, sagte Erik Florin. »An diesem Leuchtturm da.« Er wedelte vage mit der Hand in Richtung Süden. Erik kam sich schäbig vor. Offensichtlich war dieser türkische Junge tiefer erschüttert über den Tod seiner Mutter als er selbst.
    »Den Leuchtturm. Den hat sie geliebt.« Fatih schloss die Augen und presste die Handballen auf die Augäpfel. »Mensch, ich fasse es nicht.«
    »Tja«, sagte Erik angespannt und schlug gespielt jovial die Hände zusammen. »Jedenfalls sind wir hier, um uns um die Sachen zu kümmern.«
    »Welche Sachen?«, fragte Fatih.
    »Na, alles hier eben«, nuschelte Florin und machte eine flatternde Geste, die die ganze Wohnung umfasste. »Irgendjemand muss ja schließlich aufräumen«, setzte er lahm hinzu und schaute Hilfe suchend zu Theo und Lars.
    »So schnell«, sagte Fatih leise.
    »Du kannst dir gern ein Erinnerungsstück aussuchen«, bot Erik Florin großzügig an.
    Paul grunzte und bettete seinen dicken Schädel tröstend auf Fatihs spitze Stiefeletten. »Ich brauch frische Luft«, stöhnte der Türke und ging zur Tür.
    Wenige Minuten später saßen sie gemeinsam in Ismails Dönerladen. Da Ismail es vorgezogen hatte, in seine alte Heimat zurückzukehren, managte seine Frau Aische, Fatihs Mutter, seit sieben Jahren den Imbiss. Aische war ein 154 Zentimeter großes und siebzig Kilo schweres Energiebündel. Sie trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt, das sich über ihrem imposanten Busen spannte. Darauf prangte in roten Lettern »Yes we can!« Dass Aische alles schaffte, was sie einmal anpackte, bezweifelte niemand im Viertel. Ihre Haare steckten unter einem knallroten Kopftuch, das sie weniger aus religiöser Überzeugung denn als Schutz vor dem Bratendunst trug. Mit den großen goldenen Kreolen, die verwegen darunter hervorbaumelten, sah sie aus, als sei sie geradewegs einem Piratenfilm entsprungen, fand Theo. Geschäftig servierte sie Erik, Lars, Theo und sogar Paul einen Dönerteller »auf Haus«.
    »Pass bloß auf, dass du nicht gleich wieder fett wirst«, mahnte Lars den verzückten Hund. Fatih bekam eine fleischlose Variante mit Schafskäse serviert.
    »Stellen Sie sich vor: mein Sohn Fatih, ältester Sohn, Stammhalter der Familie, Trost meiner alten Tage, ist Vegetarianer – was ist das bloß für ein Türke, der kein Fleisch isst!«, klagte Aische, woraufhin Fatih nur die Augen verdrehte.
    Nachdem sie ihre Gäste kulinarisch versorgt hatte, ließ Aische sich auf einen Stuhl sinken und fing an zu schniefen. »So ein Unglück«, jammerte sie und wischte sich mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht. »Die arme, liebe Frau Anna, mausetot.« Geräuschvoll putzte sie sich die Nase. »Fatih, du musst einen schönen Kranz kaufen. Den größten!«, befahl sie. »Ohne Frau Anna wäre der Junge längst im Jugendknast gelandet«, informierte sie ihre Gäste und gab dem Sohn einen schmerzhaften Klaps auf den Hinterkopf.
    »Sie hat mich erwischt, als ich Chinaböller in die Briefkästen gestopft habe.« Fatih schaute traurig auf das Werk der Verwüstung, das er auf seinem Teller angerichtet hatte. Er hatte seinen Veggiedöner zerpflückt, ohne einen Bissen zu essen.
    »Der Junge war komplett außer Rand und Band, nachdem sein Vater in die Türkei zurückgegangen ist«, erklärt Aische. »Nur dank Frau Anna hat er überhaupt mit der Schule weitergemacht. Und dieses Jahr macht er sogar Abitur«, schloss sie stolz.
    »Anna, die hat mir wirklich Dampf gemacht«, bestätigte Fatih. »Deutsch, Englisch, Geschichte, Erdkunde – ich war komplett planlos. Nur Mathe fand ich schon immer gut.« Er sortierte die Dönertrümmer nach Farben: Schafskäse, Salat, Tomaten, Brot. Dann spießte er ein Käsebröckchen auf seine Gabel. »Mit Anna zu lernen, war ganz was anderes, die hat noch aus dem trockensten Zeug etwas Spannendes rausgeholt.« Er hob den Kopf. »Ich hab nie einen Menschen getroffen, der mehr Köpfchen hatte.« Seine
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