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Das leichte Leben: Eine Geschichte aus der Vorstadt (German Edition)

Das leichte Leben: Eine Geschichte aus der Vorstadt (German Edition)

Titel: Das leichte Leben: Eine Geschichte aus der Vorstadt (German Edition)
Autoren: Frank Schmitter
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er spannte die Seile, die das Dreieck in der Balance hielten. Er hatte Verantwortung.
    Der Passat vor ihm verlangsamte das Tempo, als er sich dem Ortsrand näherte. Der Fahrer schaute nach rechts und links. Neue Baustellen waren in den letzten Wochen entstanden, Gerding lockerte den Gürtel und wuchs, unaufhaltsam und zugleich maßvoll; keine Hochhäuser mehr wie in den siebziger Jahren, sondern ein Mix aus Reihenhäusern und Eigentumswohnungen, die zum Teil in Erbpacht angeboten wurden. Frieder war erleichtert, dass er nicht am äußersten Rand von Gerding wohnte. Die Karolinenstraße ging rechts ab von der Magdalenenstraße, zur S-Bahn hin, und Frieders Haus lag am Ende der Sackgasse. Er würde wenig hören vom Baulärm und nicht mehr sehen als die Hälse der Kräne. Wie in einem Kokon, dachte Frieder, als er nach dem Abbiegen in die Karolinenstraße die Kupplung durchdrückte und den Wagen rollen ließ, an einem Dutzend Häuser vorbei bis zum Wendekreis. Der Wendekreis umschloss den Spielplatz, die Häuser umschlossen wie ein Paar halbgeöffneter Hände den Wendekreis und wurden wiederum von Gerding, dem prosperierenden, mittelklasse-freundlichen Gerding, geschützt. Als Frieder die letzten Meter auf seine geöffnete Garage zurollte, war ihm, als führe er in einen Geburtskanal, zurück in einen Schoß.
    Er schloss die Haustür auf und sah Svenjas Beine. Sie lag im Wohnzimmer, bäuchlings auf dem Teppich, die Unterschenkel marschierten in der Luft: ihre Fernsehposition. Frieder schickte ein lautes, langgezogenes „Hal-lo“ durch den Flur, das aber ohne Echo blieb. Seit einigen Monaten war das Nicht-Antworten die Regel geworden, auch wenn seine Tochter gerade las oder spielte. Frieder ärgerte sich darüber, aber sein Ärger erzeugte im Kopf eine eigene Gegenkarikatur: Er als fischgrätmanteltragender Beamter, der, schlechte Laune ausdünstend, aus dem Büro nach Hause kommt, die Kinder, mit angelegten Armen in Reih und Glied postiert, sehen will, seine Frau dahinter, die Tageszeitung in der Hand. Der innere Widerstreit zwischen seinen Ansprüchen und deren wilhelminischer Verzerrung führte vorläufig dazu, dass er nichts sagte.
    Er ging in die Küche. Daria hörte ihn nicht, weil der Ventilator über dem Herd auf höchster Stufe arbeitete. Sie ließ Zwiebeln in einer Pfanne andünsten, auf der Arbeitsfläche lagen tiefgefrorenes Hackfleisch, eine Dose geschälter Tomaten und eine Packung Spaghetti. Frieder legte von hinten die Hände an Darias Hüfte und löste die Schlaufe ihrer Schürze, als sich seine Frau abrupt umdrehte, fast panikartig, mit fleckig geröteten Wangen und verängstigtem Blick. Er dachte, er hätte sie erschreckt, aber Daria hatte ihn aus den Augenwinkeln hereinkommen gesehen; sie konnte an diesem Tag ganz einfach keinen Mann mehr ertragen, der so nah hinter ihr stand. Frieder hob irritiert die Achseln und machte einen Schritt zum Fenster hin.
    Der Spielplatz war leer. Es war zu kalt, und eine unangenehme Feuchtigkeit lag in der Luft. Im Sommer konnte man eine Kindervolkszählung durchführen und hätte alle aus dieser Straße erfasst. Entweder saßen sie im Sand oder fuhren auf Dreirädern, Rollerblades oder Fahrrädern um den Spielplatz herum. Frieder liebte diesen Anblick, Kindheit war für ihn das Leben draußen, Erwachsensein das Leben in geschlossenen Räumen. Natürlich hatten nicht alle Nachbarn Kinder. Es gab kinderlose Doppelverdiener, pensionierte Ehepaare, einen hohen Verwaltungsbeamten aus München, der extrem zurückgezogen lebte, eine Frau in Frieders Alter, die ohne Ehemann aus dem Urlaub zurückkehrte und niemandem erzählte, wo ihr Mann nun lebte. Die Gemeinde war selbst als Bauträger aufgetreten, hatte einige Häuser auf dem freien Markt angeboten – darunter das, welches Frieders und Darias Vorbesitzer gekauft hatte –, das Gros aber in Eigenregie an Gerdinger Bürger vergeben. Auf diesem Weg blieben die Börsenjongleure, die Porsche fahrenden Computergenies und die zugereisten Vertreter der Erbengeneration in einer deutlichen Minderheit.
    Frieder suchte –  unter dem Dröhnen des Ventilators, der sich anhörte, als hebe gleich die Küche ab – nach einer Erklärung für Darias heftige Geste. Natürlich, er hatte sie gestern Nacht zurückgewiesen, aber vermutlich war es weniger die Tatsache der Zurückweisung, die sie verletzt hatte, sondern der Moment. Frieder war, den Brief in der Hand, in Gedanken bei seinem Vater gewesen, er war in diesen Minuten der Sohn seines
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