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Das lebendige Theorem (German Edition)

Das lebendige Theorem (German Edition)

Titel: Das lebendige Theorem (German Edition)
Autoren: Cédric Villani
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Rätsel wieder, in meinem Gehirn zu kreisen. Wenn es eine Verbindung gibt, werde ich sie finden.
    Tatsächlich habe ich zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit zu ahnen, dass ich länger als ein Jahr brauchen werde, um diese Verbindung zu finden. Noch auch die unwahrscheinliche Ironie zu verstehen: die Abbildung, die Étiennes Reaktion ausgelöst hat, die ihn an Kolmogorow denken ließ, war die Abbildung, die eine Situation illustrierte, in der die Verbindung zu Kolmogorow unterbrochen ist.
    An jenem Tag hatte Étienne eine gute Intuition aus einem schlechten Grund. Etwa so, als ob Darwin die Evolution der Arten erraten hätte, indem er Fledermäuse mit Flugsauriern verglichen hätte und zu Unrecht davon überzeugt gewesen wäre, dass eine enge Verbindung zwischen den beiden besteht.
    Zehn Tage nach der unerwarteten Wendung meiner Arbeitssitzung mit Clément ist das die zweite wundersame Koinzidenz, die mir auf meinem Weg sehr gelegen kommt.
    Allerdings muss man sie erst noch auswerten.
    *
»Dieser russische Physiker, wie hieß er doch? Man hat ihn nach einem Autounfall wie dem meinen tot aufgefunden. Er war klinisch tot. Ich habe den Bericht über diesen außerordentlichen Fall gelesen. Die sowjetische Wissenschaft hat alle Mittel in Bewegung gesetzt, um einen unersetzlichen Forscher zu retten. Man hat sogar ausländische Ärzte gerufen. Man hat diesen Toten wiederbelebt. Wochenlang haben sich die größten Chirurgen der Welt an seinem Lager abgelöst. Viermal ist der Mann gestorben. Viermal hat man ihm ein künstliches Leben eingehaucht, die Einzelheiten habe ich vergessen, aber ich erinnere mich, dass mich die Schilderung dieses Kampfes gegen ein skandalöses Schicksal fasziniert hat. Sein Grab stand offen, und man hat ihn mit Gewalt herausgeholt. Er hat seinen Platz an der Moskauer Universität wieder eingenommen.«

Paul Guimard, Die Dinge des Lebens
    *
Newtons Gesetz der universellen Gravitation besagt, dass zwei beliebige Körper sich mit einer Kraft anziehen, die sich proportional zum Produkt ihrer Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat ihres Abstands verhält:

Dieses klassische Gravitationsgesetz erklärt recht gut die Bewegung der Sterne in den Galaxien. Aber auch wenn Newtons Gesetz einfach ist, macht die riesige Anzahl von Sternen in einer Galaxie sie zu einer schwierigen Theorie. Schließlich versteht man auch die Funktionsweise eines Menschen nicht, nur weil man die Funktionsweise jedes Atoms für sich genommen versteht …
Einige Jahre nach dem Gravitationsgesetz machte Newton eine weitere außergewöhnliche Entdeckung: Newtons Näherungsschema, das gestattet, die Lösungen einer beliebigen Gleichung

zu berechnen. Ausgehend von einer angenäherten Lösung x 0 ersetzt man die Funktion F durch ihre Tangente T x 0 im Punkt (x 0 , F(x 0 )) (technisch gesprochen, linearisiert man die Gleichung um x 0 herum), und dann löst man die angenäherte Gleichung T x 0 (x) = 0. Dadurch ergibt sich eine neue angenäherte Lösung x 1 , und man kann von vorne beginnen: Man ersetzt F durch ihre Tangente T x 1 in x 1 , man definiert x 2 als Lösung von T x 1 (x 2 ) = 0 und so weiter. In präziser mathematischer Notation ist die Beziehung, die x n mit x n+1 verknüpft

Die auf diese Weise gewonnenen Näherungen x 1 , x 2 , x 3 , … sind unglaublich gut; sie nähern sich der »wahren« Lösung mit phänomenaler Geschwindigkeit an. Oft genügen vier oder fünf Versuche, um eine Präzision zu erreichen, die größer ist als die jedes beliebigen modernen Taschenrechners. Man sagt, dass die Babylonier diese Methode bereits vor viertausend Jahren zum Ziehen von Quadratwurzeln verwendeten; Newton entdeckte, dass dieses Verfahren sich auf beliebige Gleichungen anwenden ließ und nicht nur auf die Berechnung von Quadratwurzeln.
Viel später wurde die übernatürlich schnelle Konvergenz von Newtons Schema verwendet, um einige der bedeutendsten theoretischen Resultate des 20. Jahrhunderts zu beweisen: Kolmogorows Stabilitätstheorem, Nashs isometrischer Einbettungssatz … Allein für sich betrachtet durchbricht dieses teuflische Schema die künstliche Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Mathematik.

Isaac Newton
Der russische Mathematiker Andrei Kolmogorow ist eine legendäre Figur in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. In den 1930er Jahren begründet er die moderne Wahrscheinlichkeitstheorie. Seine Theorie der Turbulenz von Flüssigkeiten, die 1941 ausgearbeitet wurde, wird immer noch zitiert, sei
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