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Das launische Eiland.

Das launische Eiland.

Titel: Das launische Eiland.
Autoren: Andrea Camilleri
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Zimmers gelaufen war; Marietta zerriß alte Hemden, um daraus Verbandszeug zu machen; Donna Matilde hatte die Magd Mariannina ausgeschickt, den Arzt Artidoro Carmina zu holen, und stand jetzt am Fenster, auf die Rückkehr der beiden wartend. Tano, »das Grab«, war aufs Land geeilt, um dort nach Schlangenhaut zu suchen, mit der das Blut gestillt und die Wunden geheilt werden sollten. Nur der Stumme ließ sich nirgendwo im Haus blicken, wer weiß, wo er sich versteckt hatte.

    Nun blieb nichts anderes mehr zu tun, als das Fenster richtig zu verriegeln, das den ganzen Tag über im Wind geklappert hatte, so daß das Regenwasser bis ins Zimmer gedrungen war und sich mit der zentimeterhohen Staubschicht auf dem Fußboden vermischt hatte. Doch zuvor mußte er sich dem Schreibtisch nähern und mutig das Bittschreiben an den Bankdirektor an sich nehmen – das Schreiben, das den Höhepunkt seiner Schande dargestellt hatte und das er nach fünf Jahren zum erstenmal an diesem Morgen, als es so aussah, als stünde Totò Barbabiancas sicheres Ende bevor, wieder zur Hand genommen und gelesen hatte. Aber es erneut in die Hand nehmen, warum nur? Um es wieder in der Schublade verschwinden zu lassen? Danach stand ihm nicht der Sinn: Einmal hatte er gehört, daß man beim Öffnen gewisser Gräber die Toten so vorgefunden hatte, als wären sie nicht schon vor hundert Jahren gestorben, derart unversehrt waren ihre Körper und ihre Kleidung, sondern als wären sie tags zuvor eingesargt worden. Kaum aber kamen sie mit der Luft in Berührung, konnte man mit ansehen, wie sie innerhalb weniger Augenblicke zu Staub und Asche zerfielen. Das Bittschreiben, das er in Händen hielt, hatte nicht das Zeitliche gesegnet, doch genau den Eindruck machte es auf ihn – es wieder herauszuziehen war wie die Arbeit eines Totengräbers gewesen. Ohne es zu zerreißen, das war es nicht wert, kehrte er langsamen Schritts um und ließ es aus dem Fenster fallen, wozu er gerade zwei Finger spreizte, und wunderte sich, wie einfach diese Geste doch war. Dann sah er, wie das Papier flach in der Luft segelte, sich einen Augenblick auf dem lebhaft gluckernden Rinnsal niederließ, das aus dem Straßengraben bis auf halbe Straßenhöhe floß, und immer schneller werdend um die Ecke schoß und verschwand.
      Masino Bonocore hob die Arme, um die Fensterläden zu schließen, und hielt in dieser Stellung inne. Mit Wohlgefallen atmete er den Geruch der nassen Erde ein und spürte, wie sich seine Brust weitete. Vielleicht, überlegte er, kommt das daher, weil ich den ganzen Tag noch keinen Bissen zu mir genommen habe und zwei Stunden lang nicht aufhören konnte zu weinen, nachdem ich jahrelang keine Träne mehr vergossen hatte – vielleicht hatte es jetzt einfach sein müssen, viel zu lange bin ich wie tot gewesen.
      »Auf das Wohlergehen von Don Totò!« brummelte er, wohl wissend, daß er mit diesem Spruch ein Kreuz über den wichtigsten und schmerzhaftesten Teil seines Lebens machte. Aber da war nichts zu ändern, es war sinnlos, sich die Zähne auszubeißen und sich zu plagen: Der eine kommt nun mal mit dem Kopf, der andere mit den Füßen voran auf die Welt, und Charakter und Schicksal waren keine austauschbaren Variablen. Er war derjenige, der den Fehler beging und eine alte Geschichte hervorkramte und ohnehin schon einen Fuß im Grab hatte. Aus diesem Grund würde er das Fenster von jetzt an immer offenhalten, und auch im anderen Zimmer, in dem er schlief, sollten von dem Tag an Sonne und Licht eindringen. Überdies beschloß er, am Abend an seinen Sohn Santino nach Mailand zu schreiben, um ihm die merkwürdigen Vorgänge dieses Tages zu berichten und ihn zum Lachen zu bringen.

    Padre Imbornone erteilte lauthals Befehl, daß man ihm seinen Einspänner bereitstelle, denn die Heckseite der »Tomorow« hatte sich noch nicht ganz zur Seite geneigt und Kisten, Seile, Holz- und Eisenstücke sowie kleine Puppen, die sich komisch bewegten und Menschen waren, ausgespuckt. Lemonnier hatte fasziniert zugesehen, wie vom Hafen von Vigàta aus zuerst ein, dann fünf, dann zehn Segelboote wie Schmetterlinge zu dem Schiff ausgeflogen waren, sich wundersamerweise noch immer auf den Brechern hielten und zwischen Wassertälern und -bergen, denen des Erdreichs ähnlich, verschwanden und wieder auftauchten: schneeweiße Pfeile, die stur auf ihr gegnerisches Ziel zusteuerten und dabei und das ahnte Lemonnier sehr wohl – Angst und Schrecken überwanden, nur weil dort eine heftigere
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