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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis
Autoren: Jostein Gaarder
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Großmutter der Deutsche auch gefiel. Das war das Blöde an der Sache. Sie bedankte sich nicht nur bei meinem Großvater, weil er ihr Fahrrad repariert hatte, sie war auch bereit, mit ihm zusammen nach Arendal zu fahren. Sie war ungehorsam und dumm, das steht fest. Aber das allerschlimmste war, daß sie bereit war, sich auch weiter mit dem Unteroffizier Ludwig Meßner zu treffen.
    So verliebte sich meine Großmutter in einen deutschen Soldaten. Leider können wir es uns nicht immer aussuchen, in wen wir uns verlieben. Aber sie hätte beschließen müssen, sich nicht wieder mit ihm zu treffen, als sie noch nicht in ihn verliebt war. Das tat sie nicht, und dafür mußte sie büßen.
    Meine Großeltern trafen sich heimlich. Hätten die Leute von Arendal erfahren, daß Großmutter sich auf Rendezvous mit einem Deutschen einließ, wäre sie aus der guten Gesellschaft ausgestoßen worden. Die normalen Leute hatten damals nur eine Möglichkeit, die Deutschen zu bekämpfen: nichts mit ihnen zu tun zu haben.
    Im Sommer 1944 wurde Ludwig Meßner nach Deutschland zurückgeschickt, um das Dritte Reich an der Ostfront zu verteidigen. Als er sich in Arendal in den Zug setzte, verschwand er aus Großmutters Leben. Sie hörte nie wieder von ihm – auch nicht, als sie viele Jahre nach Kriegsende versuchte, ihn ausfindig zu machen. Schließlich war sie ziemlich sicher, daß er im Kampf gegen die Russen gefallen war.
    Die Radtour nach Froland und alles, was darauf folgte, wäre womöglich in Vergessenheit geraten, wenn Großmutter nicht schwanger geworden wäre. Das muß unmittelbar vor der Abreise meines Großvaters an die Ostfront passiert sein, aber sie wußte es erst viele Wochen später.
    Was danach passierte, nennt mein Vater menschliches Teufelszeug – und hier steckt er sich dann wieder eine Zigarette an. Mein Vater wurde unmittelbar vor der Befreiung im Mai 1945 geboren. Sowie die Deutschen kapituliert hatten, wurde Großmutter von Norwegern festgenommen, die alle Norwegerinnen haßten, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten. Leider gab es nicht wenige solche Frauen, und am allerschlimmsten hatten die zu leiden, die mit einem Deutschen ein Kind hatten. Die Wahrheit war, daß meine Großmutter mit meinem Großvater zusammengewesen war, weil sie ihn liebte – nicht, weil er Nazi war. Und er war auch gar kein Nazi. Ehe sie ihn am Schlafittchen packten und nach Deutschland schickten, hatten er und Großmutter Pläne geschmiedet, nach Schweden zu fliehen. Was sie davon abhielt, waren Gerüchte, daß die schwedischen Grenzposten deutsche Deserteure erschossen, wenn sie versuchten, die Grenze zu überqueren.
    Die Leute in Arendal fielen über Großmutter her und schoren sie kahl. Sie schlugen und traten sie, obwohl sie doch gerade erst ein Kind bekommen hatte. Man kann mit gutem Gewissen sagen, daß Ludwig Meßner sich besser benommen hatte.
    Ohne ein einziges Haar auf dem Kopf mußte Großmutter zu Onkel Trygve und Tante Ingrid nach Oslo fahren. In Arendal war sie nicht mehr sicher. Weil sie kahl war wie ein alter Mann, mußte sie selbst bei warmem Frühlingswetter eine Mütze tragen. Ihre Mutter wohnte weiterhin in Arendal, und fünf Jahre nach Kriegsende ging meine Großmutter mit Vater wieder dorthin zurück.
    Weder meine Großmutter noch mein Vater wollten entschuldigen, was in Froland geschehen ist. Das einzige, was wir kritisieren dürfen, ist das Strafmaß. Es ist zum Beispiel eine interessante Frage, über wie viele Generationen ein Verbrechen bestraft werden sollte. Großmutter trägt natürlich ihren Teil Schuld an ihrer Schwangerschaft, und das hat sie auch nie abgestritten. Schon schwieriger finde ich zu entscheiden, ob es auch richtig war, das Kind zu bestrafen.
    Ich habe darüber ziemlich viel nachgedacht. Mein Vater kam durch einen Sündenfall auf die Welt – aber können nicht alle Menschen ihre Wurzeln bis zu Adam und Eva zurückverfolgen? Ich weiß natürlich, daß dieser Vergleich hinkt. Im einen Fall ging es um Äpfel, im anderen um Preiselbeeren. Aber ein Fahrradschlauch sieht schließlich ähnlich aus wie die Schlange, die Adam und Eva in Versuchung führte.
    Wie auch immer, jedenfalls wissen alle Mütter, daß sie sich nicht ihr Leben lang Vorwürfe wegen eines Kindes machen können, das schon geboren ist. Und dem Kind durfte man nun wirklich keine Vorwürfe machen, finde ich. Ich finde, daß auch ein Deutschenkind das Recht hat, sich seines Lebens zu freuen. In diesem Punkt hatten mein Vater
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