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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis
Autoren: Jostein Gaarder
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enttäuscht war, daß er seinem Vater nicht gleich begegnete.
    Wir ließen das Auto stehen und gingen in Richtung »Schöner Waldemar«. Mama fragte mich, mit wem ich in Arendal so spielte, und ich ging nicht darauf ein. Das mit dem Bäcker und dem Brötchenbuch war ja wohl kein Spiel. Dann sahen wir eine ältere Dame aus dem Wirtshaus kommen. Als sie uns entdeckte, kam sie uns entgegen.
    Es war Großmutter!
    »Mutter!« rief Vater erschrocken. Wenn sonst niemand ihn gehört hätte, dann sicher die Engel im Himmel. Ich weiß noch, wie ich erschrak, so rauh und herzzerreißend schrie er.
    Im nächsten Augenblick fiel Großmutter uns einem nach dem anderen um den Hals. Mama war so verwirrt, daß sie nicht wußte, wie sie sich verhalten sollte. Als letzten drückte Großmutter mich an sich und weinte.
    »Mein Junge«, sagte sie. »Mein guter Junge.«
    Sie hörte gar nicht mehr auf zu weinen.
    »Aber warum... wieso...«, stotterte Vater.
    »Er ist heute nacht gestorben«, sagte Großmutter ernst und sah uns einen nach dem anderen an.
    »Wer?« fragte Mama.
    »Ludwig«, flüsterte Großmutter. »Er hat letzte Woche angerufen, und wir hatten noch ein paar Tage zusammen. Er erzählte, ein kleiner Junge hätte ihn in seiner Bäckerei besucht. Und als der Junge wieder weg war, glaubte Ludwig plötzlich, er könnte sein Enkel und der Mann im roten Auto, mit dem er unterwegs war, könnte sein Sohn gewesen sein. Das alles ist so großartig und so traurig. Aber es war auch gut, es war gut, daß ich ihn noch einmal sehen konnte. Er hatte einen Herzinfarkt. Er... er ist hier im Krankenhaus in meinen Armen gestorben.«
    Jetzt konnte ich mich endgültig nicht mehr beherrschen. Ich wurde von einem Weinkrampf geschüttelt und war nicht mehr zu beruhigen. Ich fand, mein eigenes Unglück war so viel schlimmer als das der anderen. Drei Erwachsene gaben sich alle Mühe, mich zu trösten, aber es gab für mich keinen Trost. Nicht nur mein Großvater war nicht mehr da. Mit ihm war eine ganze Welt verschwunden! Jetzt konnte niemand mehr bestätigen, daß alles, was ich über die Purpurlimonade und die magische Insel erzählt hatte, wirklich geschehen war. – Oder war das auch gar nicht der Sinn der Sache gewesen? Großvater war ein alter Mann gewesen, und ich hatte das Brötchenbuch nur geliehen bekommen.
    Als ich später im »Schönen Waldemar« wieder zu mir kam, saßen wir in dem kleinen Speisesaal, der nur vier Tische hatte. Ab und zu tauchte die dicke Dame auf und sagte: »Hans-Thomas? Nicht wahr?«
    »Findet ihr es nicht rätselhaft, wieso ihm plötzlich klar war, daß Hans-Thomas sein Enkel sein mußte?« fragte Großmutter. »Er wußte doch nicht einmal, daß er einen Sohn hatte .«
    Mama nickte zustimmend.
    »Das ist ganz unglaublich«, sagte sie.
    Für Vater lagen die Dinge nicht ganz so einfach.
    »Ich finde es ein viel größeres Rätsel, wieso Hans-Thomas begriffen hat, daß der alte Bäcker sein Großvater war«, sagte er.
    Die Erwachsenen sahen mich an.
    »Knabe begreift, daß Brötchenmann sein Großvater ist, und Brötchenmann begreift, daß Knabe aus Land im Norden sein Enkel ist«, sagte ich.
    Sie starrten mich mit ernster, ein wenig besorgter Miene an. Und ich fuhr fort: »Brötchenmann ruft in magisches Rohr, und seine Stimme reicht viele hundert Meilen.«
    So erfuhr ich doch noch eine Art Genugtuung nach den vielen Zweifeln an meinem Verstand, die ich hatte ertragen müssen. Und zugleich begriff ich, daß das Brötchenbuch wohl für alle Zukunft mein großes Geheimnis bleiben würde.

HERZ KÖNIG
    ... und die Erinnerungen sich weiter und weiter von dem fortbewegen, was sie einst geschaffen hat...
    Als wir weiterfuhren, saßen wir zu viert im Auto, zwei mehr als bei der Fahrt nach Süden. Ich fand diesen Stich gar nicht schlecht, aber ich dachte auch daran, daß der Herz König fehlte.
    Wieder kamen wir an der kleinen Tankstelle mit nur einer Zapfsäule vorbei, und ich glaube, Vater wünschte sich brennend, den geheimnisvollen Zwerg wiederzusehen. Aber der kleine Narr ließ sich nicht blicken. Mich wunderte das nicht, aber Vater fluchte und schimpfte. Wir erkundigten uns in der Nachbarschaft, doch da erfuhren wir nur, daß die Tankstelle seit der Ölkrise in den siebziger Jahren außer Betrieb war.
    Bald darauf war die große Reise in die Heimat der Philosophen zu Ende. Wir hatten in Athen Mama und in dem kleinen Alpendorf Großvater gefunden. Aber ich hatte auch eine Wunde in der Seele davongetragen. Ich glaubte, diese
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