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Das italienische Maedchen

Das italienische Maedchen

Titel: Das italienische Maedchen
Autoren: Lucinda Riley
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bitte die Götter um Rat. Es wäre schrecklich, wenn der vergilbende Stapel Papier im Schreibtisch bei meinem Tod, der mit Sicherheit nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt, in die falschen Hände geriete. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, ihn zu verbrennen. Nein. Ich schüttle den Kopf. Solange noch Hoffnung besteht, meinen Sohn aufzuspüren, bringe ich das nicht übers Herz. Ich bin einhundert Jahre alt geworden; vielleicht werde ich auch noch einhundertzehn.
    Doch wem soll ich die Geschichte bis dahin anvertrauen …?
    Ich gehe im Kopf die Mitglieder meiner Familie Generation für Generation durch und lande schließlich bei einem meiner Urenkel.
    Ari Malik, der älteste Sohn meines ältesten Enkels Vivek. Ich schmunzle, als ich eine Gänsehaut bekomme – das Signal der Götter, die so viel mehr wissen als ich. Ari, das einzige Mitglied meiner großen Familie mit blauen Augen, abgesehen von meinem geliebten verlorenen Sohn.
    Ich versuche, ihn mir ins Gedächtnis zu rufen; bei elf Urenkeln, tröste ich mich, hätte auch ein Mensch, der nur halb so alt ist wie ich, Mühe, sich zu erinnern. Außerdem leben meine Verwandten über ganz Indien verstreut, und ich sehe sie nur selten.
    Vivek, Aris Vater, ist der beruflich erfolgreichste meiner Enkel, wenn auch ein bisschen langweilig. Als Ingenieur verdient er genug, um seiner Frau und seinen drei Kindern ein sehr behagliches Leben bieten zu können. Wenn ich mich recht entsinne, ist Ari, ein ziemlich schlaues Bürschchen, in England zur Schule gegangen. Was er seit dem Schulabschluss macht, weiß ich nicht. Das werde ich heute herausfinden. Ich werde ihn beobachten und überprüfen, ob ich meinem Instinkt trauen kann.
    Beruhigt schließe ich die Augen und gestatte mir ein Nickerchen.
    »Wo bleibt er nur?«, flüsterte Samina Malik ihrem Mann zu. »Er hat mir hoch und heilig versprochen, diesmal pünktlich zu sein.« Ihr Blick wanderte über die vollständig versammelten Mitglieder von Anahitas großer Familie, die sich im eleganten Salon um die alte Dame scharten und sie mit Geschenken und Komplimenten überhäuften.
    »Keine Panik, Samina«, versuchte Vivek seine Frau zu beschwichtigen, »unser Sohn kommt schon noch.«
    »Ari hat gesagt, er trifft sich um zehn Uhr am Bahnhof mit uns, damit wir gemeinsam den Hügel hochfahren können … Vivek, er hat keinen Respekt vor seiner Familie, ich …«
    »Ruhig, pyari, er ist ein vielbeschäftigter junger Mann und ein guter Junge.«
    »Meinst du wirklich?«, fragte Samina. »Ich bin mir da nicht so sicher. Jedes Mal, wenn ich bei ihm anrufe, meldet sich eine andere Frauenstimme. Du weißt, wie’s in Mumbai zugeht. Nichts als Bollywood-Nutten und Ganoven«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, weil sie nicht wollte, dass die anderen sie hörten.
    »Unser Sohn ist fünfundzwanzig und leitet sein eigenes Unternehmen. Er weiß, was er tut«, erklärte Vivek.
    »Die Bediensteten warten mit dem Champagner zum Anstoßen nur noch auf ihn. Wenn Ari in den nächsten zehn Minuten nicht kommt, sollen sie ohne ihn anfangen.«
    »Na, hab ich’s nicht gesagt?«, verkündete Vivek mit einem breiten Lächeln, als sein Lieblingssohn Ari den Raum betrat. »Deine Mutter hatte wie immer Panik«, begrüßte er ihn und umarmte ihn.
    »Du hattest versprochen, am Bahnhof zu sein. Wir haben eine ganze Stunde gewartet! Wo warst du?«, fragte Samina, die wusste, dass sie sich wie immer nicht gegen den Charme ihres attraktiven Sohnes wehren konnte.
    »Entschuldige, Ma.« Ari schenkte seiner Mutter ein strahlendes Lächeln und nahm ihre Hände in die seinen. »Ich bin aufgehalten worden und habe versucht, dich über Handy zu erreichen, aber das war wie üblich ausgeschaltet.«
    Ari und sein Vater schmunzelten. Über Saminas Handyaversion amüsierte sich die ganze Familie.
    »Jetzt bin ich ja da.« Ari sah sich um. »Hab ich was verpasst?«
    »Nein. Deine Urgroßmutter war so damit beschäftigt, die übrige Familie zu begrüßen, dass sie deine Abwesenheit hoffentlich nicht bemerkt hat«, antwortete Vivek.
    Ari schaute zu seiner Urgroßmutter hinüber, deren Blick auf ihn gerichtet war.
    »Ari! Endlich!«, rief sie ihm lächelnd zu. »Komm und gib deiner Urgroßmutter einen Kuss.«
    »Sie mag hundert sein, aber ihr entgeht nichts«, flüsterte Samina Vivek zu.
    Als Anahita ihre dünnen Arme für Ari ausbreitete, machten die anderen Verwandten Platz, und aller Augen richteten sich auf ihn. Ari ging zu ihr und kniete vor ihr nieder, um ihr seine
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